VÖLKERMORD ALS HIMMLISCHER DISKURS

Der Publizist Jochen Mangelsen hat in einem literarischen Essay, der im Frühsommer in Leipzig publiziert wird, den Völkermord an den Armeniern als “himmlischen Diskurs” thematisiert. Exklusive Vorveröffentlichung zum 24. April hier auf der ZAD-Homepage.

VÖLKERMORD ALS HIMMLISCHER DISKURS

ISMET UND ARAM - EINE MERKWÜRDIGE
BEGEGNUNG

Von Jochen Mangelsen 

 

Hamburg, 19. Januar - Es war ein seltsamer Zufall, der sie zusammen
geführt hatte. Das Navigationsgerät war schuld. Ein taufrisches Modell, das
jeden eingegebenen Buchstaben blitzschnell und ziemlich beliebig ergänzte. Und
so war Aram, unachtsam, statt in seinem Heimatdorf im Elburs-Gebirge am
Mündungsbereich der Elbe gelandet. „Wo bin ich hier?" hatte er einen jungen
Mann gefragt, der etwa in seinem Alter war und freundlich gelächelt hatte. „Da
unten, das ist Hamburg" hatte der geantwortet. Und so waren sie ins Gespräch
gekommen.

Wie immer, wenn Ismet sich mit Fremden unterhielt, war er neugierig und
fragte ihnen gern ein Loch in den Bauch. Aber eigentlich ging es ihm vor allem
darum, seine eigene Geschichte zu erzählen. Er hoffte immer, dass er eines
Tages ganz von allein das Ende finden würde. Seine Geschichte, so weit er sie
kannte, war schnell erzählt. Er war mit seinem Vater in die Berge geflohen, als
sich die Gerüchte über eine neue türkische Militäroffensive verdichteten. Als
die Panzer wie eine Herde archaischer Schildkröten dicht an ihrem Versteck
vorbeizogen, warf er voller Zorn ein paar unschuldige Steine. Die erste Kugel
traf ihn in den Oberarm, die zweite zerfetzte seinen Bauch.

„Seit wann bist Du hier?" fragte Aram.

„Seit gestern? Seit zweitausend Jahren? Du weißt doch, hier im Himmel
zählt die Zeit nicht mehr. Hier ist alles irgendwie ewig."

„Und wieso wohnst Du jetzt hier? Über dem Himmel von Hamburg?"

„Ein paar Vettern von mir leben da unten. Auf die muss ich aufpassen,
sie sind ziemlich hitzköpfig. Aber was ist mit Dir? Wie kommst Du hierher?"

„Das ist eine lange Geschichte," lächelte Aram. "Lass uns einen Kaffee
trinken, dann erzähle ich."

Ismet lenkte Aram in sein Lieblingscafé, „Zum heiligen Blasius", eine
ziemlich düstere Kaschemme im Hansaviertel, Treffpunkt vieler Gestrandeter. Ein
paar ausgewaschene Steintreppen führten in den Gastraum hinunter. „Hier kommen
sie alle her,"  meinte Ismet, „manchmal
prügeln sie sich, das ist ganz lustig. Uns beachten sie nicht, wir sind Luft
für sie, aber der Kaffee schmeckt." Es war ziemlich dunkel da unten, eine Theke
mit Zapfhahn und einem Spendenschiff für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger. In einem Glaskäfig ein Krug mit Soleiern und fünf Frikadellen,
die ihre besten Tage hinter sich hatten. 
Dunkelbraun geaderter Linoleumboden, ein paar Holztische und an den
Wänden unbequeme Bänke mit Blümchenpolstern.

„Meine Familie," begann Aram, nachdem er sich drei Stück Zucker in den
Kaffee gerührt hatte, „das waren einfache Bauern aus dem Elburs. Der jüngste
Sohn sollte Priester werden, darum schickten sie ihn zu Verwandten nach Van.
Kennst Du den Van-See, ganz im Osten der Türkei?" Ismet nickte, nachdenklich.
„Er hat sich verliebt in die Tochter eines Landbesitzers. Sie haben geheiratet
und hatten fünf Kinder. Eines davon bin ich." Aram musste lachen, als er an
seine kleine Schwester dachte und an die Brüder, die jetzt alle auf ihn
warteten, weil sie sich doch im Dorf der Großeltern verabredet hatten. Er
sollte ihnen eine SMS schicken: Bleibe noch ein wenig hier +++ komme morgen
nach +++ wo ich doch nun schon mal da bin...

Eben wollte er fortfahren in seiner Geschichte, als eine Gruppe junger
Leute ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie waren laut, staksten alle ein wenig
wie Schwergewichtsringer durch den Raum oder wie Seeleute, die gerade nach
einer Atlantikquerung von Bord geklettert sind.

„Kennst Du die?" fragte Aram.

„Anatolien. Die kommen oft her. Ihre Großeltern sind als Gastarbeiter
in den Hamburger Hafen geschickt worden, haben da in primitiven Behelfsheimen
und Baracken gewohnt, richtige Mäuselöcher waren das. Arme Mäuse sind sie immer
noch, mit Goldkettchen zwar, aber eben doch."

„Wie meinst Du das? So sehen die doch nun wirklich nicht aus."

„Sie leben immer noch in ihren Mäuseburgen. Nicht mehr in den Baracken
natürlich, sondern in ihren eigenen Stadtvierteln, aber sie leben dort so, als
ob die Welt um sie herum gar nicht existiert. Immer in Habachtstellung, ob
nicht vielleicht doch eine böse Katze daherkommt. Weißt du, manchmal glaube ich
kaum, was ich sehe. Früher, zu meiner Zeit, zu Hause, da waren sie immer die
Großen und die Mächtigen, so mächtig, dass sie mich jederzeit jagen konnten.
Und töten. Nun sehe ich sie hier in ihren Ghettos, Fremde in einem fremden
Land, heimatlos. Irgendwie traurig, oder?" Er runzelte leicht die Stirn und war
selbst verwundert über seinen Gedanken. Er wischte ihn mit einer hilflosen
Geste beiseite: „Aber jetzt erzähl schon. Deine Geschichte."

Aram tat einen tiefen Blick in die Vergangenheit: „Ich erinnere mich an
weite Felder, ich bin oft auf meinem Pferd, einem braunen Wallach, an den See
geritten und habe hinüber geschaut auf die Klosterinsel. Manchmal waren meine
Brüder dabei. Es waren schwere Zeiten, eigentlich war es uns verboten, den Hof
zu verlassen. Aber wir waren jung." Aram schien ein wenig verträumt.
Schließlich fragt er Ismet: „Bist Du Kurde?"

Am Tisch der kräftigen Männer wurde es plötzlich unruhig. Eine hitzige
Debatte. Einer von ihnen, Sonnenbrille im Haar und einen breiten Silberring am
linken Ringfinger, schien der Wortführer zu sein, er hatte eine kräftige schöne
Stimme: „Er war ein Verräter. Er hat uns alle beleidigt. Er erklärt uns zu
Mördern, zu einem ganzen Volk von Mördern. Allah sei Dank haben wir ihm den
Garaus gemacht." Die anderen nickten, offensichtlich einverstanden, Zustimmung.

Ein Mann mit mächtigem Schnauzbart, eine zerknitterte Zeitung in der
Jackentasche: „Erst sind sie zu den Russen übergelaufen, dann haben sie zu
Zigtausenden ihre türkischen Nachbarn massakriert. Aber heute drehen sie alles
um und beleidigen meine Familie. Er war der Schlimmste von allen. Er hat es
verdient." Zufrieden nahm er einen tiefen Schluck, seine Kollegen taten es ihm
nach. Verrauchter Zorn.

„Wovon reden die?" flüsterte Aram.

„Von einem Journalisten, der in Istanbul ermordet wurde. Ein Landsmann
von dir."

„Hrant Dink? Die reden hier über Hrant Dink? Das ist ja unglaublich."

„Heute Morgen ist in der Stadt eine Seelenmesse für ihn gelesen worden.
Die Polizei musste die Zeremonie gegen Demonstranten schützen. Sie fühlen sich
beleidigt, weil ein Redner sie aufgefordert hat zuzugeben, dass ihre Vorfahren
einen Völkermord begangen haben."

„Und darum streiten die sich, heute noch, in diesem Land, fast hundert
Jahre danach?" Aram staunte. „Bestimmt haben doch ihre Großeltern ihnen davon
erzählt. Oder haben sie ihnen nicht zugehört? Unsere Nachbarn wussten doch
alle, was da mit uns passierte."

Viele Großeltern aber haben geschwiegen, damals, als all das geschah.
Und später auch.

Vielleicht aus Scham, vielleicht aber wollten sie sich auch vor den
Fragen ihre Kinder und ihre Enkel wegducken: ,Was habt Ihr getan in jenen
Jahren?' Die Lehrer durften ihren Schülern ohnehin nichts von dieser Geschichte
erzählen, sie wären gleich ins Gefängnis gekommen. Und ihre Zeitungen schweigen
auch. Bis auf wenige Ausnahmen wie ‚Agos'* und Hrant Dink. Darum wurde er
erschossen. Im Namen der türkischen Ehre.

„Aber sie leben doch hier, in Deutschland. Sie müssen es wissen!"

„Sie leben abgeschirmt in ihren Vierteln wie in einer eigenen Welt, ich
habe es Dir doch gesagt. Da haben sie dicke Wände gezogen, und kein Ton dringt
hindurch. Ihre Vordenker predigen noch immer Hass, du musst nur mal die
Schlagzeilen ihrer Zeitungen lesen. Die Bosse, du weißt, die Vorsitzenden ihrer
Vereine und Gemeinschaften, diese Bosse und der Konsul und der Imam, sie geben
den Ton an." Nach einer Weile fuhr er fort: „Und übrigens - die Deutschen, die
ja damals im osmanischen Reich immer dabei waren, haben auch, viele Jahrzehnte
lang, das Maul gehalten. Strenge Zensur zuerst, dann nur noch Bequemlichkeit.
Nichts durfte an die Öffentlichkeit dringen. Seit ein paar Jahren ist das zwar
anders geworden, aber besonders interessiert sind die immer noch nicht an
deiner Geschichte." Er schaute auf die Uhr, ihm war eine Idee gekommen: „Es
gibt Ausnahmen. Ich muss dich dringend mit einem Stammtisch im Schanzenviertel
bekannt machen. Du wirst staunen. Aber erst will ich Deine Geschichte zu Ende
hören. Also los."

„Ich war noch jung, keine zwanzig. Meine Schwester war erst sechzehn,
mein ältester Bruder hatte gerade geheiratet. Als ich am frühen Nachmittag von
meinem Ausritt zurückkam, fand ich ihn, mit dem Bajonett an die Platane
genagelt. Meine Eltern lagen ermordet im Hof. Von meinen anderen Geschwistern
keine Spur."

Er hat sie erst vor kurzem wieder gefunden, nachdem der himmlische
Suchdienst lange Jahre vergeblich nach ihnen geforscht hatte.

„Und du, was ist mit dir geschehen?" drängte Ismet.

„Am nächsten Tag, ich hatte die Toten gerade beerdigt, ohne Segen, ohne
Klageweiber, ohne Gebete, da waren die Reiter wieder da. Es ging ganz schnell,
die Kugel traf auf die linke Schläfe, ich kann mich noch gut an das heiße
Metall erinnern." Aram zögerte, dann sagte er es doch: „Es waren Kurden,
kurdische Reiter."

„Man hat ihnen Stiefel gegeben, eine Uniform. Kannst du dir vorstellen,
was das damals bedeutete? Wir waren ein armseliges Volk zu der Zeit, krank,
ausgebeutet von den Großgrundbesitzern. Die Winter waren kalt. Ein Paar
Stiefel, das war ein Segen, dafür folgt man den Befehlen seines Vorgesetzten,
ohne weiter nachzufragen. Ein Pferd, Brot und Reis gegen den Hunger. Das war
der Lohn. Du sagst wahrscheinlich lieber Henkerslohn dazu. Du hast Recht, es
war ein Henkerslohn."

„Und außerdem hat man ihnen das Paradies versprochen und wahrscheinlich
feenhafte Jungfrauen ohne Ende, wenn sie ein paar Ungläubige töten." Aram
versuchte einen scherzhaften Ton.

„Ja, auch das. Wir waren willfährige Werkzeuge im Vernichtungsplan. Ob
das mit den Jungfrauen dann aber so geklappt hat, bezweifle ich doch sehr."
Ismet konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. „Hier oben habe ich
jedenfalls noch keinen solchen glücklichen Harem gesichtet."

„Du bist selbst Kurde, ich wollte ..."

„Nein, du hast recht. Ich bin Kurde, ja. Oder besser, ich war Kurde.
Hier oben weiß man das alles nicht mehr so genau. Wir haben hier ja keine
Nationalität."

„Nur noch unsere Erinnerungen."

„Nur noch unsere Erinnerungen. Und unsere Geschichten."

Aram erinnerte sich lächelnd an ein Gespräch, das er vor kurzem
belauscht hatte. Ein alter weißhaariger Herero ohne Zähne, ein eleganter
Literat aus der Prager Altstadt und ein etwas kurzatmiger Deutscher, Typ ewiger
Offizier, hatten ihre Karten für eine kurze Pause beiseite gelegt, sich ein
Zigarillo angezündet, ein Cognäcchen bestellt und sich gegenseitig zugehört.
Das waren atemberaubende Schicksale, ein Tod unter der Sonne Afrikas, eine
schier unendliche Aktenflut im Hauptquartier der SS, eine Fahrt im Viehwaggon
mit unbekanntem Ziel. Als der Cognac ausgetrunken und das Zigarillo im
Aschenbecher abgetötet war, hatten sie ihre Karten wieder aufgenommen und
weiter gespielt.

„Aber unsere Geschichten gehen da unten weiter." Aram wollte den Faden
erneut aufnehmen. Da wurde er schon wieder unterbrochen, zwei junge Männer
kamen die Stufen herunter, zögerten einen Moment und steuerten dann doch auf
die Theke zu.

„Meine Vettern," wisperte Ismet. „Jetzt haben wir ein Problem."

Aber nichts geschah, die beiden bestellten Holsten vom Fass, rauchten
Filterlose und erzählten sich anscheinend irgendwelche unanständigen Witze.
Zumindest klang ihr Lachen so.

„Wir haben gar nicht weit entfernt von Euch gelebt, nur wenige Tagesritte
von Van entfernt, in der Nähe von Diyarbakir," Ismet war schon wieder bei
seinem Lieblingsthema. „Mit ein paar Ziegen und einem ordentlichen Gewehr
konnte man da ganz gut überleben. Aber die Schikanen nahmen Überhand und
irgendwann ist die Familie über die Grenze in den Irak geflohen. Die beiden
Vettern," Ismet wies mit einer leichten Neigung des Kopfes in Richtung Theke,
„sie kommen aus der Gegend von Mosul."

Wie aufs Stichwort prosteten sich die beiden Vettern, die ein neues
Bier bestellt hatten, zu: „Auf Kurdistan!" Die Türken an ihrem Tisch
verstummten und blickten die beiden an wie der Bauer, der seine Gänse kurz vor
dem Martinstag noch einmal taxiert.

„Es gibt Ärger," Ismet stand auf. Er flüsterte den beiden etwas ins
Ohr, wie verdattert merkten sie auf, ließen einen Schein auf die Bar flattern
und eilten, fast fluchtartig, die Stufen hinauf, getrieben vom johlenden Lachen
der türkischen Gäste.

„Was hast Du ihnen gesagt?" wollte Aram wissen.

„Nichts. Sie hören mich ja doch nicht. Ich habe eine Erinnerung geweckt
und sie haben die Gefahr gerochen."

Aram und Ismet hatten noch viel vor an diesem Tag, also brachen auch
sie auf und bummelten hinunter an die Binnenalster. Es war ein schöner
Wintertag, eine Kristallfolie dünnen Eises auf dem Wasser, feiner Schnee, in
dem sich die tiefe Nachmittagssonne verfing.

Flaneure in der hektischen Luft einer Stadt, die zu dieser Stunde nur
sich selbst in den Blick nimmt. Sie aber hatten Zeit. Oder besser: Die Zeit
hatte für sie keine Bedeutung mehr - eine halbe Stunde, zwanzig Jahre oder ein
Jahrhundert, das spielte keine Rolle für sie. Wenn der Augenblick sich in der
Ewigkeit verliert, wie wichtig ist dann, was in diesem Augenblick wirklich
geschieht?  Der Blechschaden an einem
leichtfertigen Toyota, der Tod eines übermütigen Jungen, das Lächeln eines
Kindes, wenn eine Schneeflocke auf sein Lid flattert, der Schuss aus dem Gewehr
eines schlecht bezahlten Soldaten? Aram und Ismet hatten es nicht eilig. Aber
irgendwann mündete ihr Plauderton wieder da, wo er immer endet, wenn Armenier
im Spiel sind - in der Politik.

Aram fragte ganz unschuldig, ob denn wohl deutsche Schulkinder etwas
lernen über seine Geschichte und über die Geschichte der Kurden oder der
Aramäer oder der Pontosgriechen. „Die Deutschen waren ja dabei. Sie wissen doch
Bescheid und müssen es ihren Kindern weitersagen."

„Sie wissen inzwischen ganz gut Bescheid," bejahte Ismet, „aber sie
trauen sich nicht."

„Sie trauen sich nicht? Vor wem haben sie Angst?"

„Vor allem vor sich selbst. Früher schon einmal, in den alten
Kolonialzeiten, haben sie die Hereros vernichtet. Das haben sie ganz und gar
verdrängt. Und dann die Shoah - ein Trauma in der Seele nicht nur der Opfer,
sondern auch der Täter.  Da wollten die Deutschen
nicht auch noch den Völkermord an den Armeniern in ihrem Schuldbuch
verzeichnen, und sei es nur als Zuschauer und Mitwisser."

„Sie waren viel mehr als das," warf Aram ein.

„Wahrscheinlich. Aber es gibt noch einen anderen Grund für das
Schweigen hierzulande. Viele Kinder türkischen Ursprungs besuchen hier die
Schulen, sie wissen nichts von den Untaten ihrer Vorfahren. Die Deutschen haben
Angst, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie sagen, sie wollen sie nicht verletzen.
Wahrscheinlich nur eine Ausrede. Wie könnten sie sie mit der Wahrheit
verletzen?"

„Aber die Kinder haben doch sowieso keine Schuld. Sie sind doch nicht
verantwortlich für die Taten ihrer Vorfahren."

„Du hast doch selbst vorhin die jungen Männer erlebt. Sie sehen es als
Nestbeschmutzung an, wenn jemand ihren Ahnen ein Verbrechen vorwirft. Sie
fühlen sich verantwortlich, darum reagieren sie so aggressiv. "

„Ja, sie sollten sich auch verantwortlich fühlen. Verantwortlich dafür,
dass die Zukunft besser wird. Aber sie sind nicht schuldig." Aram versteht den
Konflikt nicht. „Und weil das so ist, erfahren auch die anderen Kinder nichts
davon?"

„Es kommt noch viel besser," Ismets Stimme nimmt einen hellen
ironischen Ton an. „Auch die deutschen Politiker ziehen den Schwanz ein.
Jahrzehnte lang Schweigen im Walde - und dann endlich, nachdem der Druck im
Kessel zu stark geworden war, doch eine Resolution im Parlament. Da beschreiben
sie genau, was damals - es war im Jahre 1915, oder...?"

Aram nickte: „Es begann am 24. April."

„Sie beschreiben sehr genau, was damals geschah, aber sie nennen es
nicht beim Namen. Aus Rücksicht auf den Verbündeten", Ismet zeichnete zwei
imaginäre Anführungszeichen in die Luft, „vermeiden sie wortreich den Begriff,
den die Vereinten Nationen für ein solches Verbrechen geprägt haben."

„Völkermord." Aram blieb abrupt stehen, mitten im Gewühl des
Jungfernstiegs. Dieser Gedanke hat ihn schon oft heimgesucht: „Ist das denn so
wichtig? Die Hereros sind tot, die Armenier sind tot, die Aramäer, die
Griechen, du bist tot, ich bin tot. Ob einer unters Auto kommt, ob er als Held
oder als Feigling stirbt, ob die eifersüchtige Frau ihn vergiftet oder der
Krebs ihn heimsucht - tot ist tot."

„Tot ist tot! Du sagst es. Das ist ein sicherer Fakt." Ismet lachte
leise in sich hinein. „Und so schlecht geht es uns ja damit nicht, oder? Komm,
ich habe dir versprochen, dass wir heute Abend noch ins Schanzenviertel gehen.
Machen wir uns auf den Weg."

Das Café Blau, einen Steinwurf von der Flora entfernt, war Treffpunkt
für ein ziemlich bunt gewürfeltes Publikum - ein paar Punks tranken Bier aus
der Flasche, junge Künstler hockten vor ihrem Glas Rotwein und träumten von
einer Ausstellung ihrer genialen Jungwerke, die eine oder andere örtliche
Dichterin vertrieb sich die Wartezeit mit einem Cappuccino und hoffte auf die
Muse oder wenigstens auf Zuhörer bei ihrer nächsten Candlelightlesung. Eine
geschwungene Innentreppe führte auf die zweite Ebene, eine Art Empore, möbliert
mit einer alten Ledercouch, zwei Thonet-Stühlen, vielen unbequemen Holzschemeln
und mehreren wackeligen Bistrotischen. Fast alle Plätze waren belegt, vier
Frauen, zwei davon mit Kopftuch, saßen ein wenig verloren am Rand. Vor einem
seit mehr als dreißig Jahren vergessenen Mao-Porträt stand ein Mann mit einem
etwas zerrupften Schnurrbart und redete, zögerlich, als quäle ihn ein
Petersilienblatt zwischen den Zähnen.

„Er ist Türke," flüsterte Ismet, „er lebt seit Jahren in Hamburg im
Exil. Autor. Ein guter Autor. Ich habe nichts von ihm gelesen, aber alle sagen
das. Er findet keinen Verlag, der seine Bücher in deutscher Übersetzung heraus
bringt. Ein armes Schwein."

„Du bist oft hier?" fragte Aram.

„Nein, nicht oft. Aber hier treffen sich interessante Leute, da erfährt
man eine Menge."

„Es sind nicht nur Türken hier, auch etliche Deutsche und andere."

„Ja, auch andere. Die Frauen kommen aus dem Iran, da drüben zum
Beispiel hockt ein Landsmann von dir, er ist Historiker, leider ein bisschen
schüchtern."

Der Redner mit dem Petersilienblatt hob seine Stimme zum Finale: „Ich
habe unterschrieben, basta." Und setzte sich. Ein alter Herr mit Baskenmütze
übernahm das Wort: „Seit vielen Jahren kämpfe ich dafür, dass wir den Opfern
von damals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ankara muss sich entschuldigen.
Wenn wir diese Liste unterzeichnen, wenn wir uns für die ‚große Katastrophe' -
so nennen sie es, die ‚große Katastrophe' -, wenn wir uns dafür entschuldigen,
nehmen wir die Regierenden in der Türkei aus der Pflicht. Das kann ich nicht.
Wir wollen die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, aber das
funktioniert nicht mit einer wohlfeilen Geste, das geht nur über eine
verbindliche Erklärung derer, die die Macht dazu haben. Die Leute, die diese
Unterschriftenliste ins Netz gestellt haben, meinten es sicher gut. Aber sie
haben das Falsche getan. Sie hätten lieber die Regierung auffordern sollen,
endlich eine freie Geschichtsschreibung zuzulassen. Eine solche Liste hätte ich
sofort unterschrieben. Und noch etwas haben die Initiatoren falsch gemacht -
sie reden nicht vom Völkermord, sie reden sich da mit feinen Umschreibungen
raus."

Noch bevor er wieder saß, stand der vorherige Redner bereits auf: „Du
hast Recht, sie benutzen das falsche Wort. Aber sie entlasten die Regierung
nicht von ihren Pflichten. Es ist gut, wenn die Bürger sich emanzipieren und selbst
etwas tun. Hättest Du vor wenigen Jahren gedacht, dass eine solche Aktion
möglich sein würde, ohne dass der Staat mit Gewalt reagiert? Und dann dürfen
wir eines nicht vergessen - das Internet entfaltet seine eigene Dynamik.
Zehntausende haben unterschrieben. Das ist nicht mehr rückholbar. Und das
heißt, dass jetzt in der Türkei erstmals ein öffentlicher Diskurs über den
Genozid in Gang gekommen ist. Das ist doch genau das, was wir immer wollten."
Die Diskussion ging in heftiges Gemurmel über. Niemand verstand mehr niemanden.

„Es gibt also nicht nur die Leute aus den Mäuseburgen." Aram fühlte
sich erleichtert.

„Nein, es gibt auch die anderen." Ismet begrüßte rasch ein paar
Bekannte, die sich ebenfalls als Zaungäste eingeschlichen hatten, und winkte
Aram zu sich herüber. „Zwei frühere Armenier aus Amassia," stellte er vor, „und
hier ein früherer Aramäer aus Musch. Wir kennen uns seit langem." Man umarmte
sich ein wenig umständlich, wie Fremde, die dem Gastgeber eine Freude machen
wollen. Hier oben durfte geraucht werden, so vertrieben sie sich ihre erste
Verlegenheit.

Ismet hakte sich bei Aram ein: „Es gibt auch die anderen. Es sind noch
viel zu wenige, aber es werden mehr. Es gibt sogar einen Verein der
Völkermordgegner, lauter Exilanten, die nie wieder in ihre Heimat Türkei zurück
können. Sie wollen, dass ihr Land den Völkermord anerkennt. Sie wollen die
Wahrheit über ihre eigene Geschichte."

Aram: „Weil die Lüge ihre Seele beschädigt?"

Ismet: „Weil die Lüge ihre Seele beschädigt. Aber auch, weil diese Lüge
ihnen den Weg in die Zukunft verbaut."

Wie der Rauch ihrer Zigaretten waberte dieser Gedanke durch den Raum.
Er setzte sich in die Köpfe der Anwesenden und erreichte schließlich auch den
schüchternen Historiker.  Leichte Röte im
Gesicht, bat er um Gehör: „Liebe Freunde," seine Stimme war viel zu leise für
diese Runde. Er räusperte sich noch einmal: „Liebe Freunde, diese
Völkermordlüge vergiftet unsere Herzen, das wirkt bis in die vierte Generation
herüber. Das ist doch absurd. Das ist völlig absurd. Jeder noch so kleine
Schritt hilft, das Gift abzubauen. Darum bin ich für diese Liste. Aber wir
dürfen uns nichts vormachen. Eure Leute", er wandte sich direkt seinen
Vorrednern zu, „haben noch einen weiten Weg vor sich. Viele Armenier sind
misstrauisch, wütend zum Teil, eine Freundin von mir bezeichnet die ganze
Aktion als Maskerade, weil wir damit ruhig gestellt werden sollen und weil sich
die Regierung in Ankara gut dahinter verstecken kann. Ich dagegen glaube an die
kleinen Schritte. Aber natürlich müssen wir aufmerksam bleiben. Ich will Euch
erinnern an das Jahr 2005, als das deutsche Parlament seine Armenier-Resolution
beschlossen hat. Damals war es genau so... Entschuldigung", er errötete schon
wieder und griff zum Pfefferminztee, der längst kalt geworden war, die
schlaffen grünen Blätter wie eine alte Ablagerung von Seetang.

„Ich kenne ihn gar nicht wieder," milder Spott in Ismets Stimme. „Der
wird noch mal zu einem richtigen Volksredner."

„Also," fuhr der Historiker fort, und nur das heftige Auf und Ab seines
Adamsapfels verriet seine Nervosität, „damals war es doch genau so - wütende
Enttäuschung bei vielen meiner Landsleute. Einer schrieb mir damals: ‚Einfach
nur beschämend, wie die Deutschen mit den Opfern eines Völkermords umgehen.'
Ich denke dagegen, dass eine Tür geöffnet wurde, die nie wieder geschlossen
werden kann. Wir werden immer wieder durch diese Tür gehen und die Anerkennung
des Völkermords im Sinne der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen
fordern. Wir werden nicht hinnehmen, dass die Deutschen sich jetzt zurück
lehnen und denken, sie hätten getan, was sie hätten tun müssen."

Das war eine lange Rede, so lange hatte er noch nie vor Publikum
gesprochen. Anerkennendes Grinsen ringsum, als er sich jetzt eine
Weißweinschorle bestellte.

Aram war beeindruckt. „Netter Laden hier."

Da stand ein junger Mann auf, Student wahrscheinlich, Lederjacke und an
den Knien durchgescheuerte Jeans: „Leute. Ich versteh das alles nicht. Fakten, Fakten,
Fakten. Wir wissen doch, was los ist. Die Wahrheit setzt sich sowieso durch,
früher oder später. Und wenn irgendwelche Trottel hier oder sonst irgendwo auf
der Welt das nicht kapieren, ist das auch egal. Wir sind doch nicht darauf
angewiesen, dass ausgerechnet die uns folgen. Scheißen wir drauf."

Befreites Gelächter ringsum. Ein Kellner schleppte eine neue Kiste
Astra-Bier an und wurde mit dankbarem Beifall belohnt.

Ein älterer Herr, der allein am Fenster saß und bisher nur etwas
orientierungslos in seiner „Zeit" herumgeblättert hatte, räusperte sich leicht:
„Das wäre ja ganz schön, wir könnten einfach so drauf scheißen. Aber das reicht
nicht. Die Deutschen - Militär, Verwaltung, Banken, Diplomaten -  waren im osmanischen Reich präsent. Wir haben
Schuld auf uns geladen. Und die ist längst nicht getilgt. Wir müssen dafür
heute die Verantwortung übernehmen. Das heißt, wir müssen den Völkermord
endlich auch formal anerkennen, wir müssen unseren Kindern in den Schulen die
Wahrheit sagen und wir müssen aktiv dafür eintreten, dass auch die Türkei,
bevor sie in Europa eingemeindet wird, sich zu ihrer Geschichte bekennt." Er
setzte seine Brille ab, seine Stimme bekam ein professorales Timbre: „Wir müsse
helfen, ihnen die Sprache zu geben, dass sie es denken können. Wenigstens
denken. Das alles sind wir den Opfern schuldig." Er schaute sich im Raum um.
„Hier sind ja auch einige Armenier zu unserer Versammlung gekommen." Er wandte
sich direkt dem schüchternen Historiker zu. „Die Völkermordlüge verletzt die
Würde der Opfer. Das ist unsere Pflicht: Alles zu tun, um die Würde der Toten
und derer, die überlebt haben, herzustellen." Damit griff er wieder zu seiner
Zeitung, stopfte sich eine Pfeife und versank in seiner Lektüre.

Aram war wie elektrisiert, er stieß Ismet in die Rippen: „Genau das ist
der Punkt. Darüber muss ich dringend mit dir reden. Die Würde der Toten. Komm,
lass uns noch ein paar Schritte spazieren gehen."

Sie verabschiedeten sich rasch von den anderen unsichtbaren Gästen und
gingen hinaus in den winterlichen Abend. Sie holten tief Luft, schüttelten sich
den Nikotin aus den Knochen, ihr Atem formte sich zu kleinen weißen Wolken.
Gespenster, die kamen und sich wieder verflüchtigten wie die Erinnerungen eines
dementen Alten.

Aram dachte nach: „Du bist im Krieg gefallen..."

„Als Terrorist, so haben sie mich genannt."

„Gut, mich haben sie einen Verräter genannt. Fest steht, wir beide sind
tot."

„Tot ist tot, hast Du selber gesagt."

„Es fühlt sich gut an, findest Du nicht?" Aram hob ein wenig seine
Arme, als wüchsen ihm gerade Flügel. „Es fühlt sich gut an. Wie sich der
Frühlingswind anfühlt, oder die Blütenblätter des Aprikosenbaumes. Niemand muss
sich Sorgen um meine Würde machen. Die Leute denken einfach in den falschen
Kategorien."

„Sie denken in ihren Kategorien," widersprach Ismet. „Denk daran, was
Du vorhin einmal gesagt hast: Unsere Geschichte geht da unten weiter. Deine
Geschichte und meine Geschichte gehen weiter, wir schauen nur zu, aber unsere
Leute erleben es wirklich."

„Also geht es nicht um unsere Würde? Sondern um ihre Würde?" Aram war
vor einem Schaufenster stehen geblieben, ein angestaubter Buchladen, in der
Auslage vor allem billiger Restanten-Ramsch, ein vergilbter Coelho darunter,
ein kleines Büchlein mit dem Titel „Adressat unbekannt" für 2 €, ein
Gedichtband von Paruir Sewak, „Der Schmerz, der weitertreibt", ebenfalls 2 €.
„Sie spüren den Schmerz noch immer. Das also ist es. Sie sprechen von unserer
Würde, und sie meinen ihren Schmerz."

„Deine Leute haben ihre Trauer nie abladen können. Die Lügen über
deinen Tod haben sie immer in die Defensive getrieben." Ismet sprach jetzt zu
ihm wie ein großer Bruder, der seinen ersten Liebeskummer längst hinter sich
gelassen hat. „Es geht, wie immer, wenn die Menschen trauern, nicht um die
Toten, es geht nicht um uns, sondern um die Überlebenden."

„Das heißt, es geht um Erinnerungen? - Ja, das ist es wohl. Es geht um
die Bilder, die die Menschen in ihren Erinnerungen bewahren."

„Deine Reise an die Elbe hat sich gelohnt." Ismet lächelte. „Du hast
etwas gelernt."

„Aber es geht auch um Recht und Gerechtigkeit, das wollen wir doch mal
nicht vergessen." Aram hatte wieder festen Boden unter den Füßen.

„Darum geht es auch, natürlich," gab Ismet zu. „Aber dafür musst du dir
nächstes Mal einen anderen Gesprächspartner suchen. Davon versteh ich nichts."

Beide wussten, dass sie sich jetzt verabschieden sollten. Es war ein
weiter Weg zum Dorf im Elburs, selbst für himmlische Verhältnisse. Sie klopften
einander schon auf die Schulter, als Aram noch etwas einfiel: „Was war
eigentlich mit deinem Vater. Ist er auch erschossen worden?"

„Sie haben ihn gefangen genommen, ins Gefängnis von Diyarbakir gesteckt
und gefoltert. Mehr weiß ich nicht. Jeden Tag hoffe ich, ihn zu finden und
endlich das Ende meiner Geschichte zu erfahren. Ich habe keine Ahnung, was aus
ihm geworden ist, sicher ist er längst tot. Aber du weißt ja selbst, wie schwer
es unser Suchdienst hat. Es dauert eben." Ein Zug von Trauer legte sich auf
sein Gesicht. „Zeit ist ewig, Sekunden, Jahre, Jahrzehnte..."

Sie umarmten sich zum Abschied.

„Achte diesmal etwas besser auf dein Navigationsgerät," scherzte Ismet.

Aram tickerte schon den Namen seines großväterlichen Dorfes ein. Er
winkte dem Freund noch einmal zu: „Du wirst ihn finden."

 

- Nachdruck
untersagt -

 

*armenische Zeitung in Istanbu