Der Garten, die Tiere und das offene Feld

Wie der große armenische Komponist Tigran Mansurian westliche und östliche Traditionen verbindet

An Tagen, an denen sich die Neue Musik der westlichen Welt alt und müde
und verbraucht vorkommt, weil sie wieder keinen Ton ohne
Begleitgeräusch zustande gebracht hat und keinen Note, ohne sie gleich
wieder lautstark durchzustreichen, schaut sie manchmal neidvoll in
Richtung Osten. Sie verflucht die Flatterzungen und Überblasbacken, mit
denen sie Holz und Blech traktiert. Sie schämt sich für das hysterische
Kratzen und Schaben der Streicher, die Achterbahnfahrten der Glissandi,
und denkt im Stillen: Alles mal wieder mit den subtilsten Gesten der
Zerstörung artikuliert, doch letztlich nichts gesagt.

Einen
Moment lang tröstet sie sich noch mit der Erinnerung an den
Katholizismus von Olivier Messiaen, die Universalesoterik von Karlheinz
Stockhausen oder den Mystizismus von Giacinto Scelsi, die Spiritualität
von Komponisten also, die auf je eigene Weise den musikalischen
Sprachen des 20. Jahrhunderts einen archaischen Sinn zu verleihen
suchten. Aber eigentlich träumt sie davon, alles, was auf der großen
Tafel mit den avantgardistischen Techniken und Verfahren notiert ist,
wegzuwischen und etwas zu erreichen, das sie im Angesicht ihrer eigenen
Überkomplexität hilflos Neue Einfachheit nennt.

Vielleicht
staunt sie beim Blick nach Russland, ins Baltikum oder in die Ukraine
auch nur, dass Gesellschaften, die unter weit größeren Widersprüchen
leiden als die westeuropäischen, diese anders ausdrücken können als
durch Dissonanzen. Und am allermeisten verwundert sie womöglich, dass
dabei weder heilige Einfalt noch süßliche Wohlklangswolken entstehen
müssen. Die Musik des Armeniers Tigran Mansurian zum Beispiel vereint
eine tonale Klangrede, die eng an die Muttersprache gebunden ist; etwas
Folkloristisches, das mit zeitgenössischen Formen verschmilzt; eine
Religiosität, die auf Jahrtausenden orthodoxen Christentums beruht -
und einen bis in die letzte Körperfaser empfundenen
Vergänglichkeitsschmerz.

Über alle simplifizierenden Formen
ist diese Musik längst hinaus, nicht aber über eine anhaltende
Fasslichkeit, mit der Mansurian die durchsichtigen Trauerfäden seiner
zumeist kammermusikalischen Kompositionen zusammenspinnt. Wann hat
zuletzt jemand so dunkle, dichte und zugleich auch wieder lichte
Streichquartette geschrieben wie Mansurian in den achtziger Jahren?
Selbst der späte, ausgedünnte Schostakowitsch ist dagegen schieres
Pathos. Die gravitätsferne Dramatik, mit der das Münchner Rosamunde
Quartett vor fünf Jahren Mansurians ersten beiden Quartette eingespielt
hat, beweist, dass sie auch jenseits der Welt, aus der sie kommen, zu
verstehen sind.

Tigran Mansurian, 1939 in Beirut geboren, 1948
mit seinen Eltern nach Armenien ins sowjetische Reich repatriiert und
heute der bedeutendste lebende Komponist der kleinen Kaukasusrepublik,
die an Aserbaidschan, den Iran, Georgien und die Türkei grenzt, sieht
den Unterschied zwischen westlicher und östlicher Musik so: „Stellen
Sie sich ein Dorf mit einem Haus vor. Den Garten vor dem Haus schützt
eine kleine Mauer. Rechts davon sieht man ein weites Feld. Auch dieses
Feld ist umgrenzt, aber die Steine sind locker aufgetürmt, zu dem
einzigen Zweck, dass die Tiere nicht weglaufen. Die Mauer mit ihren
fest gefügten Steinen, das ist die westliche tonale Musik. Die Mauer
aus Geröll, das ist die östliche. Jeder beliebige Ton kann hier im
Mittelpunkt stehen, der unterste kann nach oben kommen und umgekehrt."

Mansurian
akzentuiert seine Worte mit beiden Händen und einem Temperament, die
man der fragilen Erscheinung und dem sanften Blick dieses Mannes
zunächst kaum zutrauen würde. Aber Entschiedenheit und Zerbrechlichkeit
bilden auch in den von ihm arrangierten Melodien von Komitas, dem
Mönchsvater der modernen armenischen Musik, eine Einheit. Mansurians
immer kurz vor dem Wegkippen stehende Singstimme, haucht diesen Liedern
später im Berliner Radialsystem, in einem Nachtkonzert der Maerzmusik,
neues Leben ein.

Die Andeutung, auf den festen Schultern der
eigenen Klavierbegleitung, der Bratsche Kim Kashkashians und dem
Perkussionsarsenal von Robyn Schulkowsky getragen, zählt hier mehr als
die perfekte Ausführung. „Die alte religiöse Musik Armeniens hat sehr
viele rhetorische Formeln", sagt Mansurian. „Es gibt lange
Vorschriftslisten, wie Ausdrücke im liturgischen Zusammenhang
auszusprechen sind. Wichtiger als das reine Erklingen von Tönen ist die
emotionale Bedeutung, die der Mensch hineinlegt."

Dabei will
sich Mansurian gar nicht vor der Gegenwart verschanzen. Dazu hat er von
Jugend an zeitgenössische Techniken wie Trophäen gesammelt. Wie viele
in der Sowjetunion groß gewordene Komponisten seiner Generation hatte
er sich nach dem Studium in Jerewan der Zwölftontechnik verschrieben,
mit dem Serialismus geliebäugelt - und begriff doch nie die
Notwendigkeit, gegen die Tradition grundsätzlich zu rebellieren. „Grob
gesagt, zerstört die avantgardistische Musik das tonale System. Wir im
Osten wussten gar nicht, dass wir tonale Musik machen. Wir brauchten
sie also auch nicht zu zerstören. Im Westen hat jeder Ton einer Skala
eine bestimmte Funktion und damit eine fast totalitäre Kraft. Im Osten
gibt es das nicht."

Er entdeckte vielmehr in der Avantgarde des
Westens Dinge, die ihm aus seiner eigenen Kulturtradition längst
vertraut waren. „Denken Sie an die moderne Poesie und wie sie die
Errungenschaft des freien Verses feierte. In der östlichen Musik war
solch ein freier Vers von Natur aus vorhanden." Aber auch die feste
Metrik mittelalterlich-orientalischer Vierzeiler, der „Hayren", zog ihn
schon Ende der sechziger Jahre komponierend an, wie überhaupt Literatur
eine entscheidende Inspiration für ihn sind.

In seinem
A-cappella-Chorwerk „Ars Poetica" vertonte er Gedichte von Yegishe
Charents, dem größten armenischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, der auf
dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors 1937 zu Tode kam. In seiner
„Hommage à Anna Achmatowa", die neben Viola, Marimba und Bassklarinette
auch die Zither der Region, die Kanun, einbezieht, beschäftigt er sich
mit Versen aus dem „verbrannten Heft" von Russlands berühmtester
Dichterin. „Ich fühle mich als Sohn der Vorvorväter", sagt Mansurian.
Man muss wohl hinzufügen: und Mütter. „Ich weiß genau, auf welchen Weg
sie mich geschickt haben."

Die religiösen Bahnen, auf denen er
sich dabei bewegt - gerade erst ist ein „Agnus Dei" für
Klarinettenquartett entstanden -, versteht er auch als Ergebnis seiner
Erziehung. „Ich versuche mich so auszudrücken, dass es keinen Zweifel
gibt über das, was ich meine. Ich fürchte immer, dass man mir nicht
glaubt, dass man es deutlicher sagen müsste." Es ist ein Sichbekennnen
zu einer unbedingten Wahrhaftigkeit. „Als meine vor fünf Jahren
gestorbene Frau noch lebte, sagte sie immer: Sag das nicht! Du brauchst
das nicht zu sagen! Ich habe dann versucht, nichts zu sagen, aber ich
kann nicht anders. Auch in der Literatur liebe ich es, wenn jemand ein
Bekenntnis ablegt, so wie sich William Faulkner in ,Schall und Wahn‘
ständig bekennt. Er konstruiert nichts, er baut nichts, er muss sich so
ausdrücken, wie er sich ausdrückt."

Die Monodie in der doppelten
Bedeutung der einsamen Klage, wie sie sich in mehreren Stücken für
Soloinstrumente ausdrückt, und einer allgemeinen Scheu, sich im
Unterholz einer undurchsichtigen Polyphonie zu verlieren, hilft ihm
dabei. Die Klage gehört ohnehin zu einem Volk, das durch den türkischen
Genozid in den zehner und zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts
fast ausgerottet worden wäre. Heute ist es mit mindestens doppelt so
vielen Köpfen, wie die gut drei Millionen Armenier im Land zählen, in
alle Welt verstreut.

International angesehene Künstler wie
Mansurian sind deshalb zentrale Identifikationsfiguren. Sie verkörpern
ein Erbe, das in der Sowjetunion ignoriert oder sogar bekämpft wurde
und heute zwischen Globalisierung und Nationalisierung zerrieben zu
werden droht. Neben seiner langjährigen Tätigkeit als Direktor des
Jerewaner Konservatoriums hat Mansurian etwa auch Musiken für den
armenisch-georgischen Kinopoeten Sergei Paradjanov geschrieben, der mit
„Die Farbe des Granatapfels" ein legendäres Werk drehte. „Ich bin Teil
eines großen Familienbetriebs", sagt Mansurian. Macht er sich um den
Nachwuchs keine Sorgen? „Nein, ich habe viele Kindern, und wie den
28-jährigen Artur Avanesov liebe ich sie alle sehr." Und er strahlt,
wie er zuvor nicht gestrahlt hat.

Die CD mit Mansurians Streichquartetten sind wie die „Hayren" und KomitasLieder bei ECM New Series erschienen.