Türkei-Politik gerät unter Beschuss

2003 hat der Nationalrat den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Doch der Bundesrat tut alles, um die Türkei zu besänftigen. Jetzt wollen die Armenier in der Schweiz Klarheit. Morgen findet ein Treffen mit Parlamentariern statt.

Es ist eine Episode mit Symbolwert: Als der damalige Bundespräsident
Pascal Couchepin im November letzten Jahres die Türkei besuchte,
brachte er dem türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül ein Geschenk
aus der Waadt mit: den Eichentisch, auf dem 1923 der Vertrag von
Lausanne unterzeichnet worden war. Gül war von diesem Präsent sehr
angetan. Es habe hohen «moralischen und emotionalen Gehalt» für sein
Land. Doch dieser Gehalt ist nicht für alle Bewohner der gleiche. Denn:
1923 nahmen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs an diesem Tisch in
Lausanne die aus den Trümmern des osmanischen Reichs entstandene,
moderne Türkei in das westliche Machtbündnis auf. Es war sozusagen ihre
Geburtsstunde. Gleichzeitig aber haben die Politiker damit am selben
Tisch den 1915 von den späteren türkischen Staatsgründern begangenen
Völkermord an den Armeniern in die politische Vergessenheit geschickt.

Affront für die Armenier

Rund
eine Million Menschen waren bei den Massakern gestorben. Bis heute
kämpfen die weltweit verstreuten Nachkommen der getöteten und
vertriebenen Armenier in zahlreichen Ländern um die Anerkennung des
Genozids. In der Türkei muss nach wie vor mit einer Anklage rechnen,
wer im Zusammenhang mit den Armeniern von Völkermord spricht.

Für
die Armenier – aber auch andere Minderheiten in der Türkei – war
Couchepins Mitbringsel aus der Schweiz ein schwerer Affront. Denn man
könnte auch sagen: Am Lausanner Tisch wurden 1923 die Wahrheit und die
Rechte der Armenier geopfert. «Das Geschenk von Pascal Couchepin ist
das letzte Beispiel einer langen Reihe von Aktionen des Bundesrats, der
einseitig alles tut, um die Türkei zu besänftigen», sagt Sarkis
Shahinian, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Armenien. Und zwar seit
Jahren.

Vier Reisen in die Türkei

2003 anerkannte
der Nationalrat in einem Postulat die Massaker an den Armeniern als
Genozid. Zweimal wurden in der Schweiz türkische Genozid-Leugner auf
Grund der Antirassismus-Strafnorm verurteilt, darunter 2007 Dogu
Perinçek nach Auftritten unter anderem in Köniz. Jedes Mal reagierte
die Türkei verstimmt – und jedes Mal fühlte sich der Bundesrat berufen,
die Wogen zu glätten.
Allein in den letzten Monaten reisten vier Bundesräte nacheinander in
die Türkei – und keiner wich von der offiziellen Sprachregelung ab, die
Vertreibung der Armenier bloss als tragische Ereignisse zu bezeichnen.
«Das ist absurd», sagt Shahinian. Denn: Dieselbe Landesregierung, die
gegenüber der Türkei nicht von Genozid sprechen will, berief sich bei
der Ausarbeitung eines Gesetzesartikels zur Bestrafung von
Völkermordleugnung ausdrücklich auf den Genozid an den Armeniern.
Unverständlich ist für Shahinian, wenn der Bundesrat aus
wirtschaftlichen Überlegungen das Wort Genozid nicht in den Mund nehmen
will. Frankreich, so Shahinian, habe den Völkermord längst auf
Gesetzesebene anerkannt – und führe trotzdem Aufträge für die Türkei
aus, auch wenn es immer wieder Drohungen aus Ankara gebe.

Druck auf den Bundesrat

Die Armenierinnen und Armenier
in der Schweiz wollen nun den Druck auf den Bundesrat verstärken, damit
er den Genozid formell anerkennt – und keinen Unterschied mehr macht
zum Holocaust an den Juden oder zu den Völkermorden in Ruanda und
Bosnien. Ein erster Schritt ist ein Auftritt zweier türkischer Frauen
morgen Dienstag vor schweizerischen Parlamentariern im Bundeshaus.
Rakel Dink, die Witwe des 2007 in Istanbul ermordeten
armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, und die
Menschenrechtlerin Fehtiye Cetin engagieren sich – unter Gefährdung
ihres Lebens – in der Türkei für eine öffentliche Debatte um die
armenische Frage. Sie werden darlegen, wie verheerend sich Auftritte
wie derjenige Couchepins auf die Früchte ihres Engagements in der
Türkei auswirken. Denn die Schweiz hat – als Geburtshelferin der
modernen Türkei, als Exilland vieler Diaspora-Armenier, als Land, das
die Menschenrechte hochhält – in der türkischen Öffentlichkeit eine
bevorzugte Wahrnehmung.

Der
Genozid, sagt Shahinian, sei weder ein Thema der Vergangenheit noch
eines, das man den Historikern zur Interpretation überlassen könne:
«Solange der Völkermord nicht öffentlich anerkannt und offizieller
Bestandteil der Geschichte ist, geben Armenier diese Last von
Generation zu Generation weiter.»