Das Europäische Parlament beugt sich der türkischen Lobby – Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern nicht mehr Voraussetzung für EU Beitritt der Türkei

Das Europäische Parlament hat auf seiner Plenarsitzung am 26. September über den vom auswärtigen Ausschuss bereits am 4. September mit großer Mehrheit angenommenen „Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ debattiert. Deutlich kritisiert wurde die Verlangsamung des Reformprozesses, vor allem die großen Defizite bei der Verwirklichung der Menschenrechte, der Meinungs- und Religionsfreiheit. Im Gegensatz zum Bericht des auswärtigen Ausschusses, worin die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern als Vorbedingung zum EU Beitritt der Türkei genannt wurde, lehnte eine Mehrheit des EP eine solche Formulierung ab. Es sei zwar „unerlässlich, sich seiner Vergangenheit zu stellen und sie zu bewältigen“, doch eine Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern sei kein Beitrittskriterium entsprechend der Beschlüsse von Kopenhagen.

Der Zentralrat der Armenier in Deutschland betrachtet es als
einen großen Fehler, dass das EP die Anerkennung des Völkermordes nicht mehr
als Vorsetzung eines EU Beitritts der Türkei
betrachtet. Dies bedeutet eine Abkehr von der Position, die das EP in
Resolutionen vom 18. Juni 1987 und 15. Dezember 2004 und zuletzt noch am 28.
September 2005 vertreten hatte. Auch wenn die Anerkennung des Völkermordes
nicht zu den Beitrittskriterien von Kopenhagen zählt, so hätte das EP seine in
mehreren Resolutionen wiederholte Forderung beibehalten sollen. Jetzt gewinnt
die Regierung in Ankara den Eindruck, dass selbst das EP im Prinzip bereit ist,
das Land auch ohne eine Anerkennung des Völkermordes in die EU aufzunehmen.

 

Nachdem der auswärtige Ausschuss den Fortschrittsbericht mit
sehr großer Mehrheit angenommen hatte, begann die Türkei sofort eine Kampagne,
um die Annahme des Berichts durch das EP zu verhindern. Durch
Täuschungsmanöver, Desinformation und Druck hat sie es schließlich geschafft,
dass die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern vom EP nicht mehr als
Voraussetzung zum EU-Beitritt der Türkei bezeichnet wird.

 

Wenn in dem Bericht - und auch in den Redebeiträgen im
Plenum - klar festgestellt wird, dass bei der Lösung der Probleme religiöser
Minderheiten „keine Fortschritte" sichtbar seien, dann stellt sich die Frage,
wie dann die Türkei „zur Festigung des interreligiösen und interkulturellen
Dialogs zwischen christlichen und muslimischen Welt beitragen" soll. Allein die
Tatsache, dass in den vergangenen Jahren die islamisch-fundamentalistischen
Tendenzen innerhalb der türkischen Gemeinschaft in Deutschland deutlich
zugenommen haben, sollte Anlass zum nachdenken geben. Gerade die heutige
islamische Regierung in Ankara, in die viele europäische Politiker ihre
Hoffnung setzen, war und ist die treibende Kraft hinter der fortschreitenden
Islamisierung nicht nur in der Türkei sondern auch in Deutschland.

 

Von einem angeblichen „Aussöhnungsprozesse" zwischen der
Türkei und Armenien kann keine Rede sein.
Die vom EP zwischen 1987 und 2005 wiederholt an die Türkei gerichtete
Aufforderung zur Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern und der
Beendigung der Wirtschaftsblockade gegen Armenien blieben bis heute erfolglos.
Auch das Angebot der armenischen Regierung, in einer gemeinsamen Kommission
Lösungen für die bestehenden Probleme zu suchen und diplomatischen Beziehungen
aufzunehmen, blieb unbeantwortet. Es gibt keinerlei konkreten Anzeichen dafür,
dass die Türkei ihre bisherige unnachgiebige Haltung ändert.

 

Allein die Tatsache, dass die Türkei seit über 35 Jahren den
nördlichen Teil Zyperns völkerrechtswidrig besetzt hält und keinerlei Anstalten
macht die Beschlüsse der UNO und der EU zu befolgen, zeigt, dass sie sich stark
genug fühlt, ihre Politik gegen alle Proteste der internationalen Gemeinschaft
fortzusetzen. Der auch vom Europäischen Parlament festgestellte Stillstand des
Reformprozesses in der Türkei zeigt, dass dort die notwendigen
gesellschaftlichen Kräfte fehlen, die einen solchen Prozess vorantreiben
könnten. Weder die islamische Regierung unter Erdogan noch die nationalistisch
orientierten Oppositionsparteien - und am wenigsten wahrscheinlich die
einflussreichen Militärs - sind an einer wirklichen Demokratisierung
interessiert.

 

Als Zentralrat der Armenier in Deutschland bedauern wir die
Entscheidung des EP. Wir wissen zwar, dass eine Entschließung des EP keine
bindende Wirkung hätte. Doch ein Festhalten an der seit 1987 verfolgten Politik
in der Völkermordfrage würde eher dazu beitragen, dass sich Ankara endlich in
Richtung Anerkennung bewegt. Jedenfalls zeigen die Erfahrungen der
Vergangenheit, dass türkische Regierungen nur dann zu Zugeständnissen bereit
sind, wenn Druck auf sie ausgeübt wird. Gegenwärtig sieht es aber eher so aus,
als ob die EU bereit ist Zugeständnisse an die Regierung in Ankara zu machen.
Eine solche Politik schwächt nicht nur unnötig die Position der EU bei den
Beitrittsverhandlungen, sondern auch die heute noch schwachen demokratischen
Kräfte in der Türkei.

 

Das EP hat seine eigene Glaubwürdigkeit verspielt, indem es
- auf türkischen Druck hin - seine einst in mehreren Beschlüssen vertretene
klare und richtige Position in der Völkermordfrage aufgegeben hat. Wie die CDU
Abgeordnete Renate Sommer in der Debatte zu Recht bemerkte, ist das EP bzw. die
EU „endgültig eine Lachnummer geworden, die niemand ernst nehmen kann". Eine
von den Europäern so mit Nachsicht und Wohlwollen bedachte Türkei wird wohl
kaum Bereitschaft zur Anerkennung des Völkermordes zeigen oder sich bei der
Erfüllung der Beitrittskriterien. beeilen. Durch die aktuelle Entscheidung des
EP sind eher die antidemokratischen und nationalistischen Kräfte gestärkt
worden, die eine unnachgiebige Haltung in der Völkermordfrage propagieren.

 

Zentralrat der Armenier
in Deutschland

Frankfurt
am Main, 03.10.2006