Hilflos unter dem Halbmond

Besatzung, Krieg, Völkermord: 100 Jahre Feindseligkeit liegen zwischen Türken und Armeniern. Nun wollen sich die Nachbarn versöhnen, doch der Widerstand ist groß. Und in der Türkei kämpfen die Armenier gegen ihr Verschwinden.

Wie eine Schlange liegt der Fluss
im leeren Land. Wurzeln winden sich aus dem Wasser, am Ufer zupfen
abgemagerte Kühe an den Grashalmen. Es gibt keine Brücke über diesen
Fluss, keine Fähre. Nur zwei zerschlissene Pfeiler auf beiden Seiten.
Die Trasse dazwischen fehlt. Sie ist zerfallen, zerstört oder
weggesprengt.

Der Arpay Cayi ist wie eine Mauer ohne Tür. Dort,
wo einst ein Weg war über den braunen Fluss, ist heute nur noch eine
Grenze, die Grenze zwischen Armenien und der Türkei - geschlossen und
unpassierbar. Auf beiden Seiten haben Militärs Checkpoints errichtet.
Soldaten sitzen auf Sandsäcken, rauchen, laden Gewehre.

Ein
Jahrhundert Feindseligkeit liegt zwischen Türken und Armeniern. Noch
immer streiten die beiden Länder darüber, was im April 1915 geschah:
Eineinhalb Millionen Armenier seien von den Osmanen aus Anatolien
vertrieben und ermordet worden, sagen die Armenier. Die Türken sprechen
von 300.000 Menschen, die in den Wirren des Ersten Weltkriegs ums Leben
kamen. Alle Versuche, den Streit beizulegen, sind bisher gescheitert.

Wie
heikel das Thema Völkermord für die türkische Diplomatie ist, zeigte
sich vor wenigen Wochen, als Ankara seinen Botschafter aus Washington
zurückrief, weil der Auswärtige Ausschuss im US-Kongress die Verfolgung
der Armenier im Osmanischen Reich als Genozid bezeichnete.

"Dieser
Streit nützt niemandem"

Und ein weiterer Konflikt belastet das
türkisch-armenische Verhältnis: 1993 überfiel und besetzte Armenien die
Enklave Berg-Karabach im benachbarten Aserbaidschan - aus Solidarität
mit dem Verbündeten Aserbaidschan hat die Türkei die Grenze komplett
versiegelt.

"Dieser Streit nützt niemandem. Wir müssen die
Vergangenheit endlich hinter uns lassen", sagt Hali Arcan. Der Ingenieur
lebt in Kalkankale, dem letzten türkischen Dorf vor der Grenze zu
Armenien. Hühner picken im Schlamm, Schweine suhlen sich in den Pfützen
der letzten Regennacht. Wie Aussatz überzieht Rost das Dorf. Er nagt an
den Fensterläden der Häuser, frisst an den Blechdächern, zersetzt die
alten Traktoren. "Sehen Sie sich um: Die Menschen hier sind arm. Wir
brauchen Fortschritt. Die Regierung muss die Grenze öffnen."

Arcans
Meinung teilen viele Menschen in der Region. Sie sind den kalten Krieg
gegen die Armenier leid. Sie möchten raus aus der Isolation. Wäre die
Grenze offen, würden mehr Touristen kommen, glauben sie. Und der Handel
mit Armenien würde der Wirtschaft helfen. "Deutsche und Franzosen haben
es doch auch geschafft", sagt Arcan.

An den Ufern des Arpay Cayi
fischen Türken und Armenier. Der Wind kämmt das Gras in strenge Linien.
Es riecht nach Moder und Erde. Die Fischer grüßen sich über den Fluss
hinweg. "Wir sind Brüder", sagen sie. "Wenn es hier regnet, regnet es
auch auf der anderen Seite des Flusses. Wenn der Fisch hier nicht beißt,
beißt er auch dort nicht."

Zaghafte Annäherungen nach hundert Jahren Ungemach

Nevzat
Bozkus, Bürgermeister der Provinzhauptstadt Kars, sitzt in seinem Büro
unter einem Porträt von Staatsgründer Atatürk und schaut durch das
Fenster auf die Stadt: Vor tausend Jahren war Kars Zentrum eines
armenischen Königreichs, heute ist sie die letzte türkische Stadt vor
der Grenze zu Armenien, 50 Kilometer vom Fluss Arpay Cayi entfernt, und
eine der ärmsten Provinzen des Landes. Bozkus sagt, als Rathauschef
unterstütze er die Grenzöffnung. Doch Bozkus ist auch Mitglied der
konservativen AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, und
die will sich nicht festlegen.

Im vergangenen Herbst schlossen
die Türkei und Armenien einen Friedensvertrag. Sie verpflichteten sich
darin erstmals zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das
jahrzehntelange Tabu ist schon früher gefallen: 2005 sprachen
Wissenschaftler auf einer Konferenz in Istanbul öffentlich von
Völkermord. 2008 sammelten türkische Intellektuelle Unterschriften für
eine Kampagne mit dem Titel "Wir entschuldigen uns". Und im vergangenen
Jahr reiste Abdullah Gül als erster türkischer Präsident in die
armenische Hauptstadt Eriwan zum Fußball-Länderspiel der Türkei gegen
Armenien. "All das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen", sagt
der türkische Anwalt und Menschenrechtler Orhan Kemal Cengiz.

Doch
der Streit um die Genozid-Resolution im US-Kongress hat den
Friedensprozess jäh unterbrochen. Premier Erdogan droht offen damit,
illegal in der Türkei lebende Armenier auszuweisen, sollte die
armenische Diaspora weiter Druck machen. Eine "inakzeptable" Äußerung,
sagte Armeniens Ministerpräsident Sersch Sargsjan im Gespräch mit
SPIEGEL ONLINE. Die Messdiener singen auf Alt-Armenisch

In
Feriköy in Istanbul feiert die armenische Gemeinde das Osterfest. In dem
Stadtteil leben Armenier, Griechen, Juden und Türken. Ein Wohnblock
verdeckt die armenische Kirche. Nur ein Schild am Hauseingang verrät:
"Ermeni Klisesi". Im Hof verkaufen Frauen Heiligenbilder und Ostereier.
In der Kirche riecht es nach Weihrauch. Die goldenen und bläulichen
Flammen der Kerzen erzittern leise. Die Messdiener singen ein Lied in
Alt-Armenisch. Die Stimmen der Chöre dringen bis auf die Straße.

"Wir
haben uns mit der Türkei arrangiert", sagt Ani, ein Gemeindemitglied.
Hätte sie die Wahl, sie würde zurück nach Armenien ziehen, in die Heimat
ihrer Eltern, oder nach Europa. Aber sie hat Arbeit und Familie in
Istanbul. "Das lässt du nicht einfach zurück."

Etwa 65.000
Armenier leben heute noch in der Türkei, die meisten in Istanbul. Es
waren einmal mehr als eine Million. Die Armenier versuchen, nicht
aufzufallen; anders als die Kurden protestieren sie nicht für ihre
Rechte. Nur einmal gingen sie zu Zehntausenden auf die Straße: nach dem
Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink 2007. Türken und
Armenier demonstrierten gemeinsam in Istanbul. "Wir sind alle
Armenier!", riefen sie. Etyen Mahcupyan, Dinks Nachfolger als
Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung "Agos", sagt, die
Bürger seien im Umgang mit der Vergangenheit sehr viel weiter als die
Politiker.

Wellblechhütten in den Obstgärten

Im Stadtteil
Rumeli Hisari, im Norden Istanbuls, leben Armenier seit 600 Jahren. Sie
halfen Sultan Mehmet II. beim Bau der Burg Rumeli. Die Festung diente
den Osmanen im Kampf gegen die Byzantiner um Konstantinopel.

Berc
Abrahamoglu kam in den fünfziger Jahren nach Rumeli Hisari. Damals
wohnten 500 Armenier in dem Stadtteil. Heute sind es nur noch 25.
Einwanderer aus dem Osten der Türkei haben die Armenier verdrängt.
"Viele der Nachbarn sind ins Ausland gezogen, nach Frankreich und
Amerika", sagt Abrahamoglu. Auf den Wiesen und in den Obstgärten der
Armenier stehen jetzt die Wellblechhütten der Einwanderer.

Berc
Abrahamoglu arbeitet als Küster in der alten armenischen Kirche in
Rumeli Hisari. Im Garten wachsen Palmen und Olivenbäume. Der Blick
reicht über den Bosporus bis nach Asien. In der Ferne summt Istanbul.
Abrahamoglu öffnet die Kirche nur noch selten. Die Gemeinde ist klein.
Nur an wenigen Tagen im Jahr feiern die Gläubigen gemeinsam
Gottesdienst.

Um den Friedhof der Armenier in Rumeli Hisari sorgt
sich längst ein Türke: Mehmet Eryigit. Sein Vater hat als Metzger in
Rumeli gearbeitet. Der Sohn zog in das Haus auf dem armenischen
Friedhof. Mehmet Eryigit pflegt die Gräber, dafür darf er den Friedhof
als Farm nutzen. Er baut Gemüse an, besitzt Kühe und verkauft Honig.
"Mein Vater hat sein Handwerk von den Armeniern gelernt", sagt er. "Ich
wünschte, die Armenier wären nicht gegangen."