"Religionsfreiheit, aber nicht ganz"

Die Situation der Christen in der Türkei

Seit dem
Niedergang des Osmanischen Reiches hat sich die Lage der Christen in
Anatolien im letzten Jahrhundert so drastisch verschlechtert, sodass
ihre Gemeinden heute vor dem Aussterben stehen. Daran hat bisher auch
die gemäßigt-islamische Regierung von Ministerpräsident Erdogan nichts
ändern können.

Kurdischer Wärter: "Kilisemiz bu."
Das
ist also die Kirche, sagt der Kurde. Die Säulen und Bögen sind intakt,
viele der verblassten Fresken noch als Heiligenbilder erkennbar. Die
Kuppeln im Dach sind aber eingestürzt, das Kirchenschiff ist Regen und
Schnee ausgesetzt.

Lange wird sich auch diese letzte von einst
sieben Kirchen im Klosterkomplex nicht mehr halten können - zumal auch
die Wände an mehreren Stellen aufgestemmt und schwer beschädigt sind.
An ganz bestimmten Stellen, wie der kurdische Wärter entschuldigend
erklärt:

Kurdischer Wärter: "Überall
dort, wo Kreuze an den Wänden waren, haben Schatzgräber die Wände
aufgebrochen. Bei unserem Volk ist das leider so: Wenn die irgendwo ein
Kreuz sehen, dann denken sie, dass dahinter ein Schatz versteckt ist."

Was
das christliche Kreuz bedeutet und wofür es steht, wissen heute nur
noch wenige Türken. So wie das Kloster Varagavank verfallen in ganz
Anatolien hunderte Kirchen, andere werden als Viehställe genutzt oder
als Lagerräume. Kaum ein viertel Prozent der türkischen Bevölkerung ist
heute noch christlichen Glaubens, wo es vor hundert Jahren noch jeder
Vierte war.

Die Vertreibung der Armenier vor 95 Jahren und der
Bevölkerungsaustausch mit Griechenland vor 85 Jahren dezimierten die
christliche Bevölkerung von Anatolien um Millionen. Unter dem
anhaltenden Druck der türkischen Republik auf ihre nicht-moslemischen
Minderheiten sind seither auch die meisten der verbliebenen Christen
abgewandert. Aus dem Vielvölkerreich der Osmanen ist eine nahezu rein
moslemische Republik geworden.

So selten sind Christen in der
Türkei geworden, dass sie ihren moslemischen Mitbürgern oft fremd und
bedrohlich vorkommen. Der protestantische Prediger Behnan Konutgan,
dessen Emanuel-Kirche im Zentrum von Istanbul zwischen drei Moscheen
liegt, kennt diese Berührungsangst nur zu gut:

Behnan Konutgan: "Ich
bin schon oft bei der Polizei angezeigt worden, mindestens zwanzig Mal
bin ich schon abgeführt worden oder musste ich auf der Wache
erscheinen. Ich bin nie verurteilt worden, weil die Richter die Gesetze
kennen und mich freilassen. Aber die Bevölkerung und selbst die Polizei
kennen die Gesetze eben nicht."

Von Gesetzes wegen ist
die Religionsausübung zwar frei in der Türkei, doch in der Praxis
müssen Christen vorsichtig sein. Für eine feindliche und anti-türkische
Macht halten viele Türken den christlichen Glauben - eine verbreitete
Haltung, die einheimische Christen wie Konutgan zur Verzweiflung
treibt.

Konutgan ist gebürtiger Aramäer aus dem sogenannten
Tur Abdin in Südostanatolien, einer der ältesten christlichen Gegenden
der Welt. Dass er im eigenen Land als Außenseiter betrachtet wird,
wurmt ihn:

Behnan Konutgan: "Ich
bin ein Anatolier, meine Vorfahren leben seit zweitausend Jahren in
Anatolien. Die Türken sind erst vor tausend Jahren gekommen. Wir waren
schon hier, als die noch in Zentralasien lebten, wir hatten damals
schon unsere Zivilisation hier, unsere Kirchen und Klöster. Aus dem
dritten, vierten und fünften Jahrhundert stammen unsere Kirchen hier
und unsere Zivilisation in Anatolien. Und nun kommen die an und sagen,
Du bist kein Türke."

Weniger religiöse, als vielmehr
nationalistische Wurzeln hat der türkische Argwohn gegen die
christlichen Staatsbürger. Von ihrem Befreiungskrieg gegen westliche
Besatzungsmächte nach dem Ersten Weltkrieg ist die türkische Nation bis
heute so geprägt, dass sie in den christlichen Minderheiten noch immer
die Speerspitzen westlicher Mächte sieht, die es auf die Spaltung der
Türkei abgesehen haben.

Das Misstrauen gegen die Christen ist
dadurch zum Bestandteil der türkischen Staatsideologie geworden. Schon
als Kindern wird den Türken dieses Misstrauen eingeimpft, und zwar an
den staatlichen Schulen, sagt der armenische Christ Garo Paylan, der
einem Schulvorstand in Istanbul angehört:

Garo Paylan: "Diese
Atmosphäre wird vor allem durch die Schulen erzeugt. Das war schon so,
als ich selbst zur Schule ging, dass wir mit Marschmusik, mit
nationalistischen Eiden und mit Parolen wie 'Der Türke hat nur sich
selbst zum Freund' vollgestopft wurden. Die Mentalität ist heute immer
noch dieselbe.

An den Schulen dieses Landes wird den Schülern
noch immer beigebracht, dass alles außer dem Türkentum nichts taugt.
Wir leben leider in einem Land, in dem alles außer dem Türkentum
abgewertet und als minderwertig abgestempelt wird."

Eine
Atmosphäre ist das, unter der die türkischen Christen schon lange zu
leiden haben - und die doch vor zwei Jahren schlagartig noch
bedrohlicher wurde. Am 19. Januar 2007 wurde der armenische Journalist
Hrant Dink in Istanbul auf offener Straße von einem jugendlichen
Nationalisten erschossen.

Und drei Monate später, am 18. April
2007, wurden drei Protestanten im osttürkischen Malatya bei einer
Bibelstunde von fünf nationalistisch gesonnenen jungen Männern mit
Dutzenden Messerstichen ermordet - darunter der türkische Pastor der
kleinen Gemeinde und ein deutscher Missionar. Als nächstes Opfer hatten
sich die Täter bereits den deutschen Pastoren Wolfgang Häde ausgesucht,
wie sich bei den polizeilichen Ermittlungen herausstellte.

Häde
war mit dem ermordeten Pastoren von Malatya verschwägert und betreut
selbst eine kleine Gemeinde im westtürkischen Izmit. Die wurde von der
Bluttat ebenso verunsichert wie alle christliche Gemeinden im Land,
sagt Häde:

Wolfgang Häde: "Die
Morde von Malatya haben vielen Christen vielleicht erstmals bewusst
gemacht, wie schlimme Konsequenzen das wirklich haben kann. Dass Leute
um ihres Glaubens willen in der Türkei schon immer Schwierigkeiten
hatten - sei es von der Familie, sei es gesellschaftlicher Druck, sei
es am Arbeitsplatz - das war bekannt und das war allen bewusst, aber
dass jemand so weit gehen würde, einen so schrecklichen Mord zu
begehen, das war auch für manchen Christen eine neue Entdeckung. Von
daher hat es in unserer Gemeinde, und ich denke auch in anderen
Gemeinden, Leute gegeben, die erstmal Angst gekriegt haben und einige,
die auch nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen."

Wie
der Mörder von Hrant Dink, so brüsteten sich auch die Mörder von
Malatya, sie hätten die türkische Nation vor der Unterwanderung durch
feindliche und staatszersetzende Kräfte retten wollen. Und ebenso wie
im Prozess um den Mord an Dink, so kommen auch beim Prozess gegen die
Mörder von Malatya nun immer mehr Hinweise ans Tageslicht, dass
Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte und Mitglieder des
Staatsapparates in die Bluttaten verstrickt waren.

Seit
kürzlich ein ähnliches Mordkomplott gegen einen armenischen Christen im
zentralanatolischen Sivas aufgedeckt wurde, prüft die
Staatsanwaltschaft auch Querverbindungen zu dem ultra-nationalistischen
Verschwörerkreis Ergenekon, der die Regierung von Ministerpräsident
Erdogan stürzen und die Türkei mit Gewalt auf seine Linie bringen
wollte. Insofern stecke in den Prozessen vielleicht auch eine Chance,
hoffen die Angehörigen des ermordeten Pastoren von Malatya:

Wolfgang Häde: "Wir
erwarten und hoffen, dass möglichst viel von der Wahrheit ans Licht
kommt, dass nicht nur der Anschein erweckt wird, das seien nur ein paar
jugendliche Fanatiker gewesen, die das aus eigenem Antrieb gemacht
hätten, sondern dass auch die Leute, die dahinter stecken, aufgedeckt
werden. Und dass das vielleicht dazu beitragen kann, dass man sich
grundsätzlich Gedanken macht in der türkischen Gesellschaft darüber,
wie geht man mit der Religionsfreiheit um, wie denkt man über Christen."

Ausgerechnet
die Sicherheitskräfte des Landes sind offenbar tief in die
Christenmorde verstrickt: Offiziere und hochrangige Polizeibeamte waren
zumindest vorab informiert von den Mordkomplotten, wenn sie nicht sogar
selbst beteiligt waren. Die Enthüllungen lassen tief blicken, meint
auch Holger Nollmann, der Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde
in Istanbul, deren Kreuzkirche seit der Bluttat von Malatya erhöhten
Polizeischutz genießt.

Holger Nollmann: "Soweit
ich das beurteilen kann, sind die Verbindungen, die da offenbar werden,
nicht von der Hand zu weisen. Es gibt sicher keine Veranlassung zu
sagen, es sind irgendwelche singulären Randgruppen. Und auch von
Einzelfällen und Einzeltaten kann man sicher nicht sprechen. Insofern
bin ich sehr froh, dass wir eine Kontinuität in den Kontaktbeamten
haben. Mein Vertrauen in die türkische Polizei insgesamt und die
türkischen Sicherheitsbehörden insgesamt ist natürlich durch diese
Erkenntnisse über die Verbindungen nicht ganz so stabil. Die Beamten,
die ich kenne, sind aber besorgt um unsere Sicherheit."

Eine
Sicherheitskamera überwacht den Eingang der Kreuzkirche in der
Innenstadt von Istanbul, aus Sicherheitsgründen bleiben die Türen
während des Gottesdienstes geschlossen - wer zu spät kommt, muss
draußen bleiben. Pfarrer Nollmann betreut nicht nur die deutsche
Auslandsgemeinde in der Kreuzkirche, er ist auch Vertreter der
Evangelischen Kirche Deutschlands bei den Patriarchaten der orthodoxen
Kirchen in der Türkei. Die Stimmung ist auch bei diesen Kirchen
verzweifelt, sagt er - nicht zuletzt aus enttäuschter Hoffnung in die
gemäßigt-islamische Regierung von Ministerpräsident Erdogan.

Holger Nollmann: "Die
christlichen Minderheiten in der Türkei befinden sich in einer
miserablen rechtlichen Situation. Als die AKP vor sechs, sieben Jahren
an die Regierung kam, haben die führenden Persönlichkeiten dieser
Partei sofort bekannt gegeben, dass sie gerne diese rechtliche
Situation der christlichen Minderheiten verbessern wollen. Und es gab
in den Jahren 2003 und 2004 auch erste Ansätze in diese Richtung,
sodass es zu einer fast euphorischen Stimmung bei den christlichen
Minderheiten kam, endlich zu den Rechten zu kommen, auf die man schon
so viele Jahrezehnte wartete. Diese Stimmung sackte dann im Jahr 2005
etwa ziemlich durch, als sichtbar wurde, dass das doch nicht so geht,
wie man sich das erhofft hatte, zumindest nicht so schnell geht. Und
die Stimmung ist dann auf ein Maß zurückgegangen, das vielleicht noch
schlechter war als vorher, weil eben es aus einer Euphorie herauskam.
Es ist eine Lage, die man etwas beschönigend Ernüchterung nennt, wenn
sie nicht hier und da sogar resignative Züge trägt."

Rechtlich
gesehen gibt es die christlichen Kirchen in der Türkei überhaupt nicht
- das Gesetz billigt ihnen keine Rechtspersönlichkeit zu. Dadurch sind
die Kirchen rechtlich handlungsunfähig - sie dürfen sich nicht selbst
verwalten, kein Eigentum besitzen und keine Geistlichen ausbilden.
Hunderte christliche Krankenhäuser, Waisenhäuser und Schulen sind in
den letzten Jahrzehnten vom Staat beschlagnahmt und enteignet worden.
Trotz mehrerer Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes
wurden sie bisher nicht zurückerstattet.

Nicht einmal ihre
Patriarchen und Synoden dürfen die Kirchen ohne die Intervention des
türkischen Staates bestimmen. Der Klerus des Ökumenischen Patriarchats
von Konstantinopel steht vor dem Aussterben, weil sein Priesterseminar
auf der Insel Halki vor Istanbul keinen Nachwuchs ausbilden darf.
Dositheos Anagnostopoulos, der Sprecher des Ökumenischen Patriarchats,
bringt das Problem der Kirchen auf den Punkt:

Dositheos Anagnostopoulos: "Wenn
es eine Institution nicht als Institution gibt, dann gibt es sie
überhaupt nicht. Wenn es sie nicht gibt, dann kann diese Institution
weder jemanden einstellen noch Vermögen verwalten noch Vermögen
besitzen und das wichtigste: Die gehen davon aus, dass die Halki-Schule
nicht geöffnet werden kann, weil es das Patriarchat als juristische
Existenz gar nicht gibt."

Die Stimmung an dem 1700 Jahre
alten Patriarchat ist entsprechend gedrückt. Einzig und allein im
Streit um den Titel des Patriarchen gebe es etwas Bewegung, berichtet
Anagnostopoulos - denn selbst den machte der türkische Staat der Kirche
bisher streitig.

Dositheos Anagnostopoulos: "Ich
berichte sehr gerne über positive Dinge, aber leider gibt es die nicht.
Es gibt nur folgende gute Entwicklung und zwar: Im Januar 2008 hat das
erste Mal ein türkischer Premier im Parlament cora publikum das
Patriarchat als 'Ökumenisches Patriarchat' bezeichnet. Er hat das Wort
benutzt und dazu gesagt, das ist eine Angelegenheit der Kirche und geht
uns nichts an. Punkt. Das ist für uns sehr wichtig, denn wir haben nie
von der Türkei verlangt, dass sie uns als Ökumenisches Patriarchat
anerkennt; wir haben nur darum gebeten, dass wir diesen Titel, der 1700
Jahre alt ist, benutzen dürfen, ohne dass es Probleme gibt.

Dieser
letzte Punkt ist noch nicht verwirklicht, das heißt niemand hat uns
gesagt, ihr könnt diesen Titel benutzen. Aber zumindest hat ein
Ministerpräsident davon gesprochen, und das ist etwas Positives.
Darüberhinaus gibt es aber keine Veränderung im juristischen Status des
Patriarchats. Nach wie vor existieren wir juristisch nicht."

Woran
liegt es aber, dass die Regierung ihre Ankündigungen nicht wahr gemacht
hat, dass die Reformen für die christlichen Minderheiten versandet und
stecken geblieben sind? An der AKP-Regierung liegt es nicht, meint der
Beobachter Nollmann:

Holger Nollmann: "Ganz
nüchtern analysiert liegt es daran, dass in diesen Jahren viele
weitergehende Verbesserungen der rechtlichen Situation von der
Opposition verhindert und behindert worden sind. Zum Beispiel ein schon
lange angekündigtes und erwartetes neues Stiftungsgesetz, das zu einer
Verbesserung dieser Situation führen dürfte, ist endlich nach vielen
Jahren durchs Parlament, aber die Oppositionsparteien haben
Verfassungsbeschwerde eingelegt, und wir müssen abwarten, wie das
Verfassungsgericht entscheidet.

Es gibt sicher einiges zu
beklagen, was die Reformfreudigkeit der Regierung angeht, aber
zumindest mit Blick auf die Rechte religiöser Minderheiten ist von den
Oppositionsparteien deutlich weniger zu erwarten als von der jetzigen
Regierungspartei."

Viel Zeit bleibt nicht mehr, wenn die
Reformen auch etwas nützen sollen. Die meisten Metropoliten des
Ökumenischen Patriarchats sind schon über 70 Jahre alt, den armenischen
Kirchen und der syrisch-orthodoxen Kirche geht es nicht viel besser.
Zur Religionsfreiheit gehört eben mehr als ein Satz in der Verfassung,
wie Dositheos Anagnostopoulos vom Ökumenischen Patriarchat sagt:

Dositheos Anagnostopoulos: "Wir
haben eine Liturgiefreiheit. Das ist Religionsfreiheit, aber nicht
ganz. Weil wenn eine Kirche nicht funktionstüchtig ist, nicht
funktionieren kann, aber die Menschen beten gehen können, dann ist zwar
die Kirche auf, aber sie funktioniert nicht. Die Kirche, wenn sie
keinen Nachwuchs hat, wenn der türkische Staat ausländische Priester
nicht in der Türkei arbeiten lässt, dann sehe ich die Zukunft sehr
nebulös - um nicht schwarz zu sagen."

 

 

 

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1004540/