US-Präsident Biden erkennt Völkermord an Armeniern an, Deutschland schweigt

US-Präsident Joseph Biden hat am 24. April dieses Jahres als erster US-Präsident den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich anerkannt. Er folgt damit dem Kongress der Vereinigten Staaten, die den Völkermord bereits vor Jahren offiziell als solchen eingestuft haben. “Dank dieserAnerkennung setzen die USA weltweit ein starken politischen Signal, das von den Verantwortlichen nicht ignoriert werden darf”, sagt Herr Owassapian, Vorsitzender der Zentralrat der Armenier in Deutschland.

Die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Armeniern – des „Mets Ekhern“ – hat vor dem Hintergrund des zweiten Artsakh-Krieges in der Region Berg-Karabach eine besondere Bedeutung. Das Militärbündnis der Türkei und Aserbaidschans hat im 44 Tage andauernden Konflikt im Herbst 2020 über 100.000 armenische Zivilisten aus ihren Häusern vertrieben und zu Flüchtlingen werden lassen. Schulen, Kindergärten, Kirchen, Krankenhäuser und Wohnblöcke wurden mit Flächenbombardements überzogen, mit dem Ziel, möglichst viele Zivilisten zu töten. 

 

Zum Einsatz kamen von der Genfer Konvention geächtete Cluster-Bomben, sowie chemische Massenvernichtungswaffen in Form von weißem Phosphor, um Flora und Fauna im Siedlungsgebiet der Armenier nachhaltig zu schädigen. Eigens aus Syrien und Libyen eingeflogenen und bezahlten Terror-Milizen wurden Prämien pro Kopf eines armenischen Opfers versprochen – ungeachtet ob Soldat, oder Zivilist, ungeachtet, ob Mann, Frau, Kind oder Greis. 

Dank einer raschen Evakuierung der Zivilbevölkerung aus großen Teilen von Berg-Karabach konnten die Opferzahlen zum Glück verhältnismäßig niedrig gehalten werden, doch die Intention der türkisch-aserbaidschanischen Koalition, war die gleiche, wie vor 105 Jahren beim Völkermord im Osmanischen Reich: die Tötung aller Armenier, derer sie habhaft werden konnten, und die Auslöschung jedweder Erinnerung an sie. 

 

Es verwundert also nicht, dass Aserbaidschan in den besetzten Gebieten in Berg-Karbach bereits mit der Vernichtung armenischer Kirchen, Denkmäler, und weiterer Zeugnisse bzw. deren Umgestaltung (der sogenannten „Albanisierung“) begonnen hat. Internationale Organisationen stellen die Verbrechen auf Satellitenbildern fest und schlagen Alarm, bleiben jedoch ungehört. Und Aserbaidschan hält UNESCO und weitere Organisationen hin und lässt sie nicht rein, um die Verbrechen zu vertuschen. Sie werden erst dann nach Berg-Karabach gelangen, wenn alles Armenische vernichtet oder umgestaltet worden ist und es nichts mehr zu schützen gibt.

 

Bei der Siegesparade nach dem Krieg in Baku sprach der türkische Präsident Erdogan davon, dass die Augen von Enver Pasha und seiner Soldaten an diesem Tage voll mit Freudentränen seien. Enver Pasha war maßgeblicher Initiator und Durchführer des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich im Jahre 1915. Damit stellte der türkische Präsident den zweiten Krieg in Berg-Karabach und die versuchte Vernichtung der armenischen Bevölkerung in der Region in direkten Bezug zum Völkermord und pries zugleich die Völkermörder und ihre Taten.

 

Mehr als 200 armenische Kriegsgefangene befinden sich weiterhin in aserbaidschanischer Haft. Internationale Organisationen berichten von Folter und Misshandlung. Aserbaidschan weigert sich seit sechs Monaten im Bruch mit allen einschlägigen internationalen Gesetzen, sowie dem Waffenstillstandsabkommen vom 09.11.2020 und anhaltender internationaler Appelle, die Gefangenen freizulassen. Zugleich erneuert der aserbaidschanische Präsident Aliyev im Wochenschnitt seine Drohungen gegen Armenien, bezeichnet große Teile der Republik Armenien als aserbaidschanisches Gebiet, inklusive der Hauptstand von Armenien, Yerevan, und spricht offen davon, „dorthin zurückzukehren“.

 

In Anbetracht der fortgesetzten genozidalen Politik und Aggression gegen die Armenier, verwundern die Reaktionen der Türkei und Aserbaidschans auf die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den US-Präsidenten nicht. Die Türkei leugnet bis heute den Völkermord und hat die Anerkennung auf das Schärfste verurteilt. Und der aserbaidschanische Präsident bezeichnete selbige als „einen historischen Fehler“.

Die weltweiten Reaktionen fielen dagegen meist positiv aus. Stellvertretend ist hier die Aussage des litauischen Außenministers Gabrielius Landsbergis bei der Presserunde nach dem Treffen mit seinem Amtskollegen in Baku zu nennen: „Wir hörten, wie der US-Präsident eine historische Wahrheit anerkannt hat, die auch Litauen anerkennt.“

 

Aus Deutschland ist hingegen kein solches Statement zum Jahrestag des Völkermords an den Armeniern am 24.04. zu vernehmen gewesen. Ganz im Gegenteil, immer neue Enthüllungen zeigen auf, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten auf der Lohnliste Aserbaidschans gestanden und in diesem Zusammenhang pro-aserbaidschanische Aussagen getätigt und Politik betrieben haben. Wie viele weitere Parlamentarier immer noch aus aserbaidschanischen Kassen bezahlt werden, müssen die nun folgenden Ermittlungen zeigen. Mitten in Berlin betreiben Türkei und Aserbaidschan einen eigenen Propaganda-Sender – BerlinTV – bei dem im Wochentakt antiarmenische Beiträge zu sehen waren und z.T. immer noch sind. Und aserbaidschanische Lobbyisten haben ungehinderten Zugang zum Bundestag.

 

Ein Bündnispartner Deutschlands in der NATO – die Türkei – setzte seine Flugzeuge gegen die armenische Zivilbevölkerung in Berg-Karabach ein und hat mit Sprengköpfen aus deutscher Produktion Zivilisten in Kirchen, Krankenhäusern, Schulen und weiterer ziviler Infrastruktur bombardiert. Die türkischen Angriffsdrohnen der Marke „Bayraktar“, die entscheidend für den Erfolg im Krieg gewesen sind, sind zu großen Teilen mit Elektronik und Technik aus deutscher Produktion gebaut. 

 

Ein entsprechender Antrag, vor dem Hintergrund der Kriegsverbrechen in Berg-Karabach ein Waffenembargo gegen die Türkei zu erlassen und keine Militärtechnik mehr an Ankara zu verkaufen, lehnte das deutsche Verfassungsgericht mit einer kafkaesk anmutenden Begründung trotzdem ab: „Es bestehe keine ausreichende Grundlage für einen solchen Schritt“. Ein erneuter Völkermordversuch an den Armeniern wurde als nicht ausreichend dafür bewertet, die Geschäftsbeziehung zum größten Abnehmer deutscher Rüstungsgüter, der Türkei, zu kappen.

 

Unser aufrichtiger Dank gilt den Stimmen im deutschen Bundestag und während der Berichterstattung in den deutschen Medien, die die Realitäten des Krieges im Herbst 2020 benannt und aufgezeigt haben. Leider blieben diese deutlich in der Minderheit. Bezeichnend waren dagegen viele Beiträge aus Politik und Medien, in denen wider jedwede Wahrscheinlichkeit und Realität stets Ungleiches gleichgesetzt und so gesprochen wurde, als wisse man nicht, wie der zweite Krieg in Berg-Karabach ausgebrochen, wer Aggressor und wer Opfer sei. „Whataboutism“ in reiner Form. Damit bot man dem türkisch-aserbaidschanischen Bündnis nicht nur operative Unterstützung durch den Verkauf von Waffen, sondern auch politische und mediale Deckung für den Krieg. 105 Jahre nachdem das Deutsche Reich die Jungtürken beim ersten Völkermord an den Armeniern unterstützt hatte, wiederholte sich die Geschichte auf eine unrühmliche Weise.

 

 

 

Es gibt wirtschaftliche Tatsachen und Erklärungen für die Zurückhaltung vieler europäischer Länder: mit der Transkaspischen Pipeline verläuft eine vielversprechende Öl- und Gasleitung durch Aserbaidschan und die Türkei. Damit bieten die beiden eine wichtige Alternative zu Russland für Öl- und Gaslieferungen. Aber es kann nicht sein, dass diese wirtschaftlichen und politischen Interessen elementare Grundsätze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, internationales Völkerrecht und die Genfer Konvention aushebeln; das Öl mehr Wert ist als Menschenleben.

 

Europa hat hart und schnell auf die Inhaftierung von Alexey Navalny in Russland reagiert mit einer ganzen Reihe von Sanktionen. Seit über sechs Monaten befinden sich über 200 armenische Kriegsgefangene in Haft in Aserbaidschan, darunter viele Zivilisten, auch Frauen und alte Menschen, die nicht rechtzeitig vor den vorrückenden Truppen fliehen konnten. Sie werden misshandelt und gefoltert, jedoch werden Sanktionen gegen das Regime in Baku nicht einmal diskutiert. Eine eklatante Ungleichbehandlung der Fälle, die ein Ende haben muss.

 

Die anstehende Bundestagswahl bietet nun die Möglichkeit, dies wieder geradezurücken. Alle Parteien haben die Möglichkeit, sowohl den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, als auch den zweiten Krieg in der Region Berg-Karabach und die dort begangenen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen aufzuarbeiten, anzuerkennen und zu benennen. Und dann die entsprechenden außenpolitischen Schlüsse daraus zu ziehen.

 

 

In seiner Resolution von 2016 erkannte der Bundestag eine Mitverantwortung Deutschland’s an dem Völkermord an den Armeniern an. Es ist Zeit, dass die Anerkennung desselben auch auf Ebene der Regierung erfolgt und die Erinnerung an den Völkermord institutionalisiert und festgehalten wird. Es ist ebenso Zeit, dass die Menschenrechts- und Kriegsverbrechen des türkisch-aserbaidschanischen Bündnisses im Krieg von 2020 benannt und daraus entsprechende Schlüsse für die Lösung des Konflikt in Berg-Karabach gezogen werden. Um es mit den Worten des litauischen Außenministers zu sagen: es wäre die Anerkennung „historischer Wahrheit[en]“. 

Andernfalls behielte Adolf Hitler mit seinem, weit unrühmlicheren Zitat recht, mit dem er den damals noch bevorstehenden Völkermord an den Juden rechtfertigte: 

 

"Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?"