PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN AN DIE VERGANGENHEIT IN ARMENIEN UND IN DER TÜRKEI

Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben die Pressemitteilung zu der Ausstellung "Speaking to One Another" erhalten. Das ist ein umfangreiches Projekt. Aber erlauben Sie dennoch einige Anmerkungen:

1. Sie sprechen von "persönlichen Erinnerungen von Menschen aus Armenien und der Türkei an ihre ineinander verflochtene Vergangenheit". Tatsächlich geht es natürlich um eine miteinander verflochtene Vergangenheit als Täter und Opfer in der Türkei.

2. Sie sprechen davon, das Projekt stelle "das Individuum und sein Erleben in den Mittelpunkt". Das ist gut so. Aber das Individuum repräsentiert auf seine Weise natürlich auch das Land, aus dem es berichtet. Tatsächlich fällt uns auf, dass die Berichte der türkischen Teilnehmer/innen in gar keiner Weise widerspiegeln, wie die Türkei mit ihrer Geschichte umgeht. So gerät das Projekt in eine merkwürdige Schieflage: Da wird der Eindruck vermittelt, es gäbe einen gewissen Gleichklang der Erinnerungen. Das Projekt verschweigt die politische  Wirklichkeit. Und die ist durch eine brutale Leugnungspolitik gekennzeichnet.

3. Sie sprechen von der "Deportation und Ermordung hunderttausender Armenier". Tatsächlich ist das eine skandalöse Verfälschung. Sie hätten Recht, wenn sie das auf die Massaker um die Jahrhundertwende bezögen. Sie beziehen diese Zahl aber auch auf den Völkermord von 1915. Bei diesem Genozid sind allein 1,5 Millionen Armenier umgebracht worden, dazu rechnen Sie doch bitte auch noch die Pontosgriechen, Yeziden und die Assyrer...

4. Sie sprechen von Gräueltaten. Tatsächlich handelte es sich um einen Völkermord. Dürfen oder wollen Sie in Ihrem Projekt die Dinge nicht beim Namen nennen? Übernehmen Sie hier nicht fraglos die Sprachregelungen all jener Geschichtsverfälscher, denen Sie mit Ihrem Projekt eigentlich auf die Spur kommen wollen?

4. Sie sprechen von der Hoffnung, das Verständnis zwischen den Menschen in
Armenien und der Türkei zu fördern und so zu einem weiteren Schritt auf dem Weg der Versöhnung beizutragen. Tatsächlich befürchten wir, dass Sie die real existierenden Konflikte eher zukleistern. Versöhnung setzt Respekt und Anerkennung voraus. Beides ist auf türkischer Seite nicht erkennbar. Dass junge Türken sich gegen den militanten Mainstream ihrer Heimat stellen, ist anerkennenswert und mutig. Sagt aber nichts über die Bereitschaft der Türkei aus, sich ihrer Geschichte zu stellen.

5. Sie sprechen von Verantwortung und Verzeihen. Tatsächlich kann Verzeihung nur gewährt werden, wenn die Gegenseite die Verantwortung für die Taten übernimmt. Davon ist leider nicht die Rede.
 
Wir können nur hoffen, dass die Wanderausstellung, die Sie nun in Berlin zeigen, diese Defizite aufhebt. Wir glauben, dass es noch unendlicher Bildungsanstrengungen bedarf, jungen Menschen in der Türkei - und den Migranten aus der Türkei in Deutschland - ein neues Geschichtsbild zu vermitteln. Aufklärung tut Not, insofern hoffen wir auf einen positiven Effekt zumindest hierzulande. Leider ist eine solche Wirkung in der Türkei nicht zu erwarten, weil die politischen und religiösen Eliten das legislativ und exekutiv zu verhindern wissen.
 
Das deutsche Auswärtige Amt hat Ihr Projekt finanziert. Es ist zu befürchten, dass dahinter auch die leidige Hoffnung steckt, den armenisch-türkischen Konflikt weich zu zeichnen. Eine subtile Prophylaxe, die auf den 100. Jahrestag des türkischen Völkermords an den Armeniern im Jahre 1915 zielt? Wir hoffen, das ist nur eine Fehl- und Überinterpretation.

Tatsächlich wird die Türkei nicht darum herumkommen, diesen Völkermord endlich anzuerkennen.
 
Und wenn es noch einmal 100 Jahre dauert.
 
Hochachtungsvoll
 
Azat Ordukhanyan
 
Vorsitzender des Zentralrats der Armenier in Deutschland
 
Frankfurt am Main

29.09.2012