Armenische Gemeinde zu Berlin eröffnete am 9. Mai 2004 ihre Veranstaltungsreihe Yergir

Faszination Konstantinopel - Am 9. Mai wurde im Hay Dun der Armenischen Gemeinde zu Berlin die Veranstaltungsreihe Yergir (wie die Armenier ihre jeweilige Heimat genannt haben), in der das armenische Leben vor 1915 anhand seiner Zentren vorgestellt werden soll, mit einem Abend zum Thema »Faszination Konstantinopel« eröffnet – »jenem mythischen Ort, der Schönheit und Zerstörung, Hoffnung und Enttäuschung in so untrennbarer Weise vereint«, und der zum »Symbol des verlorenen Lebens und unerreichbarer Visionen« geworden ist. So formulierte Krikor Beledian in einem gemeinsam mit Raymond H. Kevorkian verfaßten Artikel*, dessen Titel auch das Thema der Veranstaltung inspiriert hat.

In
der ehemaligen Hauptstadt von Byzanz und später des Osmanischen Reichs
lebten jahrhundertelang Griechen, Armenier, Juden, Türken und andere
Völker. Und sie leben heute noch dort, wenn auch in einer stark
veränderten demographischen Konstellation. Liegt die Zahl der Armenier
heute etwa bei 60.000, so ist die Zahl der Griechen auf wenige Tausend
reduziert. Für die armenische wie griechische Diaspora jedoch hat die
Stadt am Bosporus ihren besonderen Stellenwert behalten, da sie eines
der lebendigsten kulturellen Zentren in der Geschichte dieser Völker
gewesen ist.

Das
Programm sah zwei Referate mit Bildprojektionen über das Leben und
Schicksal der Griechen und Armenier in Konstantinopel/Istanbul vor
sowie die Vorführung des Films Passagen in Istanbul von Merlyn Solakhan und Manfred Blank, der vom ZDF produziert worden war.

Im seinem einleitenden Referat ging Vartkes Alyanak
auf die Geschichte der Stadt Konstantinopel ein: Gegründet unter dem
Namen Byzantion im Zuge der Entstehung der griechischen Städte an der
Westküste Kleinasiens und des Schwarzen Meeres wurde die Stadt später
unter dem Namen Konstantinopel zur Hauptstadt und zum Zentrum des
oströmischen bzw. byzantinischen Reiches. Es entstand ein christliches
Weltreich ­ ­– ab 391 n. Chr. war das Christentum Staatsreligion –, das
1.000 Jahre lang Bestand haben sollte und u. a. auch von Kaisern
armenischer Herkunft regiert wurde.

Das
Referat beschäftigte sich desweiteren mit der Situation der Armenier
und Griechen in Konstantinopel nach dem ersten Weltkrieg, deren
Lebenssituation von Unsicherheit, Diskriminierung und ständigen
Repressalien gekennzeichnet war. Dazu gehören u.a. insbesondere die
Einführung der Besonderen Vermögenssteuer (varlik vergisi) im Jahr
1942, die September-Pogrome 1955 sowie die Ausweisung der Griechen ohne
türkische Staatsangehörigkeit aus der Türkei im Jahr 1964. Nicht
zuletzt hat diese permanente Unsicherheit dazu geführt, daß heute nur
noch ca. 2.000 Griechen in Istanbul als verschwindend kleine Minderheit
an eine ehemals große historische Tradition erinnern.

Mari Karaciyan-Berndt
wies in ihrem Referat auf die Ursprünge der armenischen Präsenz in
Konstantinopel hin, die bis in die Gründungszeit der Stadt zurück
reiche. Waren es zunächst armenische Adlige, die es in der
byzantinischen Zeit zu hohen Stellungen im Staat gebracht hatten, so
wurden in osmanischer Zeit verstärkt Armenier aus verschiedenen
Gegenden des Reichs in Konstantinopel angesiedelt. Massiver Zuzug der
Armenier ab dem 17. Jahrhundert ließ ihre Zahl bis 1844 auf mehr als
220.000 anwachsen. Durch diesen Zuzug von Armeniern aus Anatolien
entstand in Konstantinopel eine kulturelle armenische Infrastruktur,
die schließlich im 19. Jahrhundert zu einem literarisch-kulturellen
sowie politischen Aufbruch der westarmenischen Gemeinschaft führte.

Geschildert
wurde auch das armenische Leben in Konstantinopel in der Zeit
unmittelbar vor dem Genozid von 1915: Die Gemeindestruktur der Armenier
mit Patriarchat, Kirchen und Schulen, ihre Repräsentation im
Osmanischen Parlament.

Der
24. April 1915 machte die mit der Stadt Konstantinopel verbundenen
Hoffnungen der armenischen Gemeinschaft zunichte. So zeugt das heutige
»armenische Bolis« mit seinem verblassenden Glanz von einer Zeit, die
nur noch in Spuren sichtbar ist.

Vor der anschließenden Vorführung von Passagen in Istanbul führte Merlyn Solakhan
in das Thema des Films ein. Die Filmemacher hätten versucht, im
Anschluß an das Konzept von Walter Benjamins Passagen-Werk einen Besuch
des Stadtteils Pera (Beyoglu) und einen Gang durch seine Geschichte zu
inszenieren. Pera bildete im 19. Jhd. das Zentrum Konstantinopels und
die La grande Rue de Péra war die Prachtstraße jenes Zentrums. Der Reiz
dieses Stadtteils, den seine ethnische und kulturelle Vielfalt
charakterisiert hatte, lebt heute nur noch in den Erzählungen. Daher
seien die Filmemacher glücklich darüber gewesen, daß sie bei den
Dreharbeiten 1966 Angehörige von Minderheiten hatten filmen können, die
bereit waren, zu erzählen.

Durch
die beeindruckenden Bilder des Films und die Erzählungen in wehmütige
Erinnerung an das Verlorene versetzt, begaben sich die etwa 100
Teilnehmer, darunter Frau Staatssekretärin Monika Beck, Bevollmächtigte
des Saarlands beim Bund, Herr Dr. Anton Markmiller, Zuständiger für
Kulturpolitik in der Vertretung des Saarlands, die Schauspielerin Frau
Martina Krauel, die Historikerin Frau Annegret Ehmann, sowie Mitglieder
der Griechischen Gemeinde in Berlin, darunter vom Verein der
Pontos-Griechen, schließlich zu einem Buffet, das mit Speisen der
armenischen Küche Konstantinopels aufwartete.

Die
Veranstaltung stellte eine gelungene Verbindung von Bildern,
Erinnerungen, Geschichte und Erzählungen über das Verlorene dar. Die
Armenische Gemeinde zu Berlin hofft, die Reihe Yergir mit der
Vorstellung von weiteren Zentren des armenischen Lebens in der Zeit vor
1915 erfolgreich fortsetzen zu können.


Berlin im Mai 2004


Vartkes Alyanak / Armenische Gemeinde zu Berlin

*Beledian,
Krikor / Kevorkian, Raymond H.: Faszination Konstantinopel, in:
Armenien. 5000 Jahre Kunst und Kultur, hrsg. vom Museum Bochum und
Institut für Armenische Studien, Tübingen 1995, S. 297-313.