Christliche Minderheit in Istanbul / Bei den Armeniern regiert die Angst

Dutzende Häuser von Angehörigen der christlichen Minderheit sind mit Plaketten markiert. Stadtverwaltung und Polizei wissen von nichts. Eine kurdische Abgeordnete fordert Aufklärung

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
Die kurdische Parlamentsabgeordnete Sebahat
Tuncel sorgt derzeit für Aufsehen mit einer Parlamentsanfrage über die
Kennzeichnung christlicher Häuser in Istanbul. Danach wurden in den
letzten Wochen Häuser in Sisli und Samatya, Gegenden, in denen viele
Armenier und Griechen leben, mit roten oder grünen Plaketten
gekennzeichnet. Tuncel will von Innenminister Besir Atalay wissen, wer
hinter dieser Kennzeichnung steckt und welchen Sinn das haben soll.

Die Anfrage von Sebahat Tuncel geht auf einen Bericht in der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos
zurück. Wie Agos-Redakteur Ariz Nalci gegenüber der taz bestätigte,
seien mehrere Reporter des Blattes aktiv geworden, nachdem beunruhigte,
"überwiegend ältere Angehörige der armenischen Community" bei ihnen
angerufen und berichtet hätten, dass an ihren Häusern kleine rote oder
grüne Zettel klebten. Agos ging der Sache nach und stellte
fest, dass rund 100 Häuser, in denen nicht immer, aber doch sehr häufig
Armenier leben, mit diesen Zetteln, die ungefähr die Größe eines
U-Bahn-Tickets haben, beklebt waren. Nachfragen bei der Stadtverwaltung
und der Polizei haben bislang kein Ergebnis gebracht. "Niemand weiß
davon", weshalb nun die Abgeordnete Tuncel den Innenminister
aufgefordert hat, die Sache aufzuklären. "Es kann ein schlechter Scherz
sein", sagte Nalci, "es kann aber auch einen ernsten Hintergrund
haben."

In der Vergangenheit ging die Kennzeichnung der
Häuser von Minderheiten oft Pogromen gegen ebendiese Minderheiten
voraus. Das war in der Türkei zuletzt 1955 der Fall, als ein von der
konservativen Regierung unter Premier Menderes gesteuerter Mob Häuser
und Geschäfte von Griechen im Istanbuler Stadtteil Beyoglu verwüstete.
Eine Kennzeichnung armenischer Häuser gab es auch im
armenisch-aserbaidschanischen Konflikt vor der Vertreibung der Armenier
aus Baku und Sungait.

Aktuell geht bei den Istanbuler Armeniern aber
eine andere Sorge um. So geht aus der Anklageschrift gegen die
nationalistische Ergenekon-Gruppe hervor, dass Anschläge auf Armenier
als ein Mittel für eine gezielte Destabilisierungskampagne vorgesehen
waren. Der Gruppe wird vorgeworfen, einen Putsch gegen die Regierung
von Premier Erdogan vorbereitet zu haben.

"Wir wissen aus der Anklageschrift für das
dritte Verfahren, dass Anschläge gegen armenische Häuser geplant
waren", sagte Ariz Nalci. Vor zweieinhalb Jahren wurde der
Chefredakteur von Agos, Hrant Dink, von einem rechtsradikalen
Jugendlichen erschossen. Die Hintermänner dieses Mordes werden
ebenfalls bei Ergenekon vermutet.

Bis sich jetzt Sebahat Tuncel der Geschichte
annahm, war das Ganze lediglich eine lokale Begebenheit. Weder der
Sprecher des griechischen Patriarchats, Dositeos Anagnostisois, noch
der Pfarrer der evangelischen Gemeinde, Holger Nollmann, hatten davon
gehört.

Agos und Sebahat Tuncel verlangen, dass
die Polizei eine offizielle Untersuchung durchführt, um die Betroffenen
zu beruhigen. "Sie sollen öffentlich dazu Stellung nehmen", sagte
Nalci, "damit wir wissen, was los ist." Dieses Ansinnen scheint nicht
aussichtslos, denn die gegenwärtige Regierung bemüht sich, die
Situation der christlichen Minderheiten zu verbessern.

Vor zehn Tagen hatte sich Ministerpräsident
Erdogan mit den Repräsentanten der Griechen und Armeniern getroffen und
sie der Wertschätzung der Regierung versichert. Der griechische
Patriarch Bartholomeus I. sprach anschließend von einem historischen
Treffen.